Cabal - Clive Barker.doc
Ausdruck zu verleihen, aber die Szene des Wiedersehens vor ihr – das Kind griff über sich und berührte das Kinn der Mutter, sein Schluchzen ließ nach – war so rührend. Ekel wurde zur Bestürzung, Angst, Verwirrung.
»Ich will Ihnen helfen«, sagte die Frau. »Ich weiß, warum Sie hierher gekommen sind.«
»Das bezweifle ich«, sagte Lori.
»Verschwenden Sie hier nicht Ihre Zeit«, antwortete die Frau. »Sie haben hier nichts zu suchen, Midian ist die Heimat der Nachtbrut. Nur der Nachtbrut.«
Ihre Stimme war leiser geworden, kaum mehr als ein Flüstern.
»Der Nachtbrut?« sagte Lori lauter.
Die Frau sah schmerzerfüllt drein.
»Psssst...«, sagte sie. »Ich sollte Ihnen das gar nicht sagen. Aber soviel bin ich Ihnen wenigstens schuldig.«
Lori wich nicht weiter zur Tür zurück. Ihr Instinkt sagte ihr, sie solle warten.
»Kennen Sie einen Mann namens Boone?« sagte sie.
Die Frau machte den Mund auf, um zu antworten; ihr Gesicht war eine Masse widerstreitender Gefühle. Sie wollte antworten, soviel war deutlich; aber Angst hinderte sie am Sprechen. Das war unwichtig. Ihr Zögern war Antwort genug. Sie kannte Boone; oder hatte ihn gekannt.
»Rachel.«
Die Stimme hallte aus der Tür, die in die Erde hinab-führte. Eine Männerstimme.
»Komm weg da«, verlangte sie. »Du hast nichts zu sagen.« Die Frau sah zur Treppe.
»Mister Lylesburg«, sagte sie mit formeller Stimme.
»Sie hat Babette gerettet.«
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»Wir wissen es«, kam die Antwort aus der Dunkelheit.
Wir, dachte Lori. Wie viele andere waren noch da unter der Erde; wie viele von der Nachtbrut?
Die Nähe der offenen Tür verlieh ihr Selbstvertrauen, daher forderte sie die Stimme heraus, die versuchte, ihre Informantin zum Schweigen zu bringen.
»Ich habe das Kind gerettet«, sagte sie. »Ich glaube, dafür steht mir etwas zu.«
In der Dunkelheit herrschte Schweigen; dann leuchtete in ihrer Mitte ein Pünktchen heiße Asche auf, und Lori wurde klar, daß Mister Lylesburg fast oben auf der Treppe stand, wo das Licht von der Tür auf ihn fallen und ihn beleuchten sollte, wenn auch schwach, aber irgendwie hatten sich die Schatten um ihn herum geballt, so daß er unsichtbar blieb, abgesehen von seiner Zigarette.
»Das Kind hat kein Leben, das man retten könnte«, sagte er zu Lori, »aber was sie hat, gehört Ihnen, wenn Sie es wollen.« Er machte eine Pause. »Wollen Sie es? Wenn ja, nehmen Sie sie. Sie gehört Ihnen.«
Das Thema dieser Unterhaltung entsetzte sie.
»Wofür halten Sie mich?« sagte sie.
»Ich weiß nicht«, antwortete Lylesburg. »Sie waren diejenige, die eine Belohnung verlangt hat.«
»Ich möchte nur ein paar Fragen beantwortet haben«, protestierte Lori. »Ich will das Kind nicht. Ich bin keine Wilde.«
»Nein«, sagte die Stimme sanft. »Nein, das sind Sie nicht. Also gehen Sie. Sie haben hier nichts zu suchen.«
Er zog an der Zigarette, und in deren winzigem Licht konnte Lori die Züge des Sprechers erkennen. Sie spürte, daß er sich in diesem Augenblick freiwillig offenbarte und den Schleier der Schatten eine Handvoll Augenblicke fallenließ, um ihrem Blick von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. Auch er war, wie Rachel, ausgezehrt, bei ihm 99
fiel das Hagere mehr auf, weil seine Knochen groß und für solidere Umhüllung geschaffen waren. Jetzt, da die Augen in die Höhlen eingesunken waren und die Gesichtsmuskeln sich unter der papierartigen Haut nur allzu deutlich abzeichneten, beherrschte die gerunzelte und toten-blasse Wölbung seiner Stirn das Gesicht.
»Dies war niemals beabsichtigt«, sagte er. »Sie hätten nichts sehen sollen.«
»Das weiß ich«, antwortete Lori.
»Dann wissen Sie auch, daß es ernste Folgen nach sich ziehen wird, wenn Sie davon sprechen.«
»Drohen Sie mir nicht.«
»Nicht für Sie«, sagte Lylesburg. »Für uns.«
Sie empfand einen Anflug von Scham, weil sie ihn mißverstanden hatte. Sie war nicht die Verwundbare; sie konnte im Sonnenschein gehen.
»Ich werde nichts sagen«, sagte sie zu ihm.
»Ich danke Ihnen«, sagte er.
Er zog wieder an seiner Zigarette, und der dunkle Rauch verhüllte sein Gesicht.
»Was unten i s t . . . « sagte er hinter dem Schleier,
»...bleibt unten.«
Als sie das hörte, seufzte Rachel leise und betrachtete das Kind, das sie sanft wiegte.
»Komm mit«, sagte Lylesburg, und die Schatten, die ihn verbargen, bewegten sich die Treppe hinunter.
»Ich muß gehen«, sagte Rachel und drehte sich um, um ihm zu folgen. »Vergessen Sie, daß Sie
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