Cabal - Clive Barker.doc
jemals hier waren.
Sie können nichts tun. Sie haben Mister Lylesburg gehört.
Was unten ist. . . «
»...bleibt unten. Ja, ich habe es gehört.«
»Midian gehört der Brut. Hier ist niemand, der Sie braucht...«
»Sagen Sie mir nur eines«, bat Lori. »Ist Boone hier?«
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Rachel hatte die Treppe bereits erreicht und ging hinunter.
»Er ist hier, nicht?« sagte Lori, die die Sicherheit der Tür verließ und die Kammer zu Rachel hin durchquerte. »Ihr habt seinen Leichnam gestohlen!«
Das ergab einen schrecklichen, makabren Sinn. Diese Gruftbewohner, diese Nachtbrut, verhinderten, daß Boone zur letzten Ruhe gebettet wurde.
»Das habt ihr getan! Ihr habt ihn gestohlen!«
Rachel blieb stehen und drehte sich zu Lori um; ihr Gesicht war in der Schwärze der Treppe kaum zu sehen.
»Wir haben nichts gestohlen«, sagte sie, und ihre Antwort war nicht gekränkt.
»Und wo ist er dann?« wollte Lori wissen.
Rachel wandte sich ab, und die Schatten verschluckten sie vollkommen.
»Sagen Sie es mir! Bitte, bei Gott!« schrie Lori ihr nach. Plötzlich weinte sie: ein Aufruhr von Wut und Angst und Hilflosigkeit. »Bitte, sagen Sie es mir!«
Verzweiflung trieb sie hinter Rachel her die Treppe hinunter, ihr Schreien wurde zu Flehen.
»Warten Sie... reden Sie mit mir...«
Sie ging drei Stufen, dann eine vierte. Auf der fünften blieb sie stehen, oder besser gesagt, ihr Körper blieb stehen, die Muskeln ihrer Beine wurden ohne ihr Zutun starr und weigerten sich, sie noch einen Schritt in die Dunkelheit der Gruft zu transportieren. Plötzlich kribbel-te Gänsehaut an ihrem ganzen Körper; ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren. Keine Willenskraft konnte den animali-schen Imperativ in ihr überwinden, der ihr das Hinabstei-gen untersagte; sie konnte nur wie angewurzelt stehen-bleiben und in die Tiefe starren. Selbst ihre Tränen waren plötzlich getrocknet, der Speichel aus ihrem Mund verschwunden, so daß sie ebensowenig sprechen wie gehen 101
konnte. Nicht, daß sie jetzt noch in die Dunkelheit hinab-rufen wollte; sie fürchtete, die Kräfte dort unten könnten ihrem Ruf folgen. Obwohl sie sie nicht sehen konnte, wußte sie in ihrem Innersten, daß sie weit schrecklicher als Rachel und ihr Tier-Kind waren. Neben den Fähigkeiten, die die anderen besaßen, war das Gestaltverändern fast eine natürliche Begabung. Sie spürte ihre Absei-tigkeit als Beigeschmack in der Luft. Sie atmete sie ein und aus. Sie versengte ihr die Lunge und beschleunigte ihren Herzschlag.
Wenn sie Boones Leichnam als Spielzeug hatten, würden sie ihn nicht mehr herausgeben. Sie mußte sich mit der Hoffnung trösten, daß sich seine Seele an einem lichteren Ort befand.
Sie gab sich geschlagen und ging einen Schritt zurück.
Die Schatten schienen jedoch nicht bereit, sie freizugeben.
Sie spürte, wie sie sich mit ihrer Bluse verwoben und sich an ihre Wimpern hefteten, Tausende winzige Griffe nach ihr, die ihren Rückzug aufhielten.
»Ich werde es keinem sagen«, murmelte sie. »Bitte laßt mich gehen.«
Doch die Schatten ließen nicht los, ihre Macht war ein Versprechen von Strafe, sollte sie sie belügen.
»Ich verspreche es«, sagte sie. »Was kann ich sonst tun?«
Und plötzlich kapitulierten sie. Ihr wurde erst klar, wie stark ihr Einfluß gewesen war, als er verschwand. Sie stolperte rückwärts und fiel die Treppe hinauf ins Licht der Vorkammer. Sie drehte der Gruft den Rücken zu und floh zur Tür hinaus in die Sonne.
Die war zu grell. Sie bedeckte die Augen und hielt sich aufrecht, indem sie sich an dem Steinportal festhielt, damit sie sich an ihre Brutalität gewöhnen konnte. Sie brauchte mehrere Minuten, während derer sie abwech-102
selnd zitternd und starr vor dem Mausoleum stand. Erst als sie durch halbgeschlossene Augen sehen konnte, versuchte sie zu gehen; der Rückweg zum Friedhofsportal war ein Gewirr aus Sackgassen und verpaßten Abzweigungen.
Als sie dieses jedoch erreichte, hatte sie sich mehr oder weniger an die Brutalität des Lichts und des Himmels ge-wöhnt. Aber ihr Körper gehorchte dem Verstand immer noch nicht völlig. Ihre Beine weigerten sich, sie mehr als ein paar Schritte hügelaufwärts Richtung Midian zu tragen, dann drohten sie, sie zu Boden stürzen zu lassen. Ihr Körper hatte eine Überdosis Adrenalin bekommen und machte Kapriolen. Aber wenigstens lebte sie. Unten auf der Treppe hatte es mehrere Augenblicke lang auf der Kippe gestanden. Die Schatten, die sie an Wimpern und Fäden gehalten
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