Cabal - Clive Barker.doc
hatten, hätten sie holen können, daran zweifelte sie nicht. Sie für die Unterwelt beanspruchen und auslöschen. Warum hatten sie sie freigelassen? Vielleicht, weil sie das Kind gerettet hatte; vielleicht, weil sie Schweigen geschworen hatte und sie ihr vertrauten. Keines davon schienen jedoch die Motive von Monstern zu sein; aber sie mußte glauben, daß das, was unter Midians Friedhof hauste, diese Bezeichnung verdie n-te. Wer anders als Monster baute sich ein Nest zwischen den Toten? Sie konnten sich selbst Nachtbrut nennen, aber weder Worte noch Gesten, noch Gutgläubigkeit konnten ihre wahre Natur verheimlichen.
Sie war Dämonen entronnen – Wesen voll Verfall und Bösartigkeit –, und sie hätte ein Dankgebet für ihre Erlö-
sung in die Höhe gesprochen, wäre der Himmel nicht so unermeßlich und hell gewesen, und so eindeutig ohne Götter, die es hätten hören können.
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3. Teil
DUNKLE ZEITEN
» .. .draußen in der Stadt, mit zwei Häuten.
Leder und Fleisch.
Drei, wenn man die Vorhaut mitzählt. Und alle sind heute nacht ausgegangen, um angefaßt zu werden, Yessir!
Alle sind bereit, heute nacht gerieben und liebkost und geliebt zu werden, Yessir!«
CHARLES KYD
Hanging by a thread
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XI
Der Ort der Pirsch
l
Während Lori nach Shere Neck zurückfuhr, das Radio ohrenbetäubend laut gestellt, um ihre eigene Existenz zu bestätigen und zu verhindern, daß sie abschweifte, wurde sie mit jeder Meile überzeugter, daß sie trotz aller Versprechen nicht imstande sein würde, das Erlebnis vor Sheryl zu verheimlichen. War es nicht überdeutlich in ihrem Gesicht, in ihrer Stimme? Diese Befürchtungen erwiesen sich jedoch als grundlos. Entweder konnte sie besser verheimlichen, als sie gedacht hatte, oder Sheryl war nicht so sensibel. Wie auch immer, Sheryl stellte nur die oberflächlichsten Fragen über Loris neuerlichen Besuch in Midian, bevor sie selbst von Curtis sprach.
»Ich möchte, daß du ihn kennenlernst«, sagte sie, »nur um sicherzugehen, daß ich nicht träume.«
»Ich fahre nach Hause, Sheryl«, sagte Lori.
»Aber sicher nicht heute abend. Es ist spät.«
Sie hatte recht; es war schon so spät am Tage, daß Lori nicht mehr an die Heimfahrt denken konnte. Und sie hatte auch keinen plausiblen Grund, Sheryls Einladung abzulehnen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen.
»Du wirst dir nicht wie das fünfte Rad am Wagen vor-kommen, das verspreche ich dir«, sagte Sheryl. »Er hat gesagt, daß er dich kennenlernen möchte. Ich habe ihm alles von dir erzählt. Nun... nicht alles. Aber genug, du weißt schon, wie wir uns kennengelernt haben.« Sie machte ein hilfloses Gesicht. »Sag, daß du mitkommen wirst«, bat sie.
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»Ich komme mit.«
»Großartig! Ich werde ihn sofort anrufen.«
Während Sheryl telefonierte, duschte Lori. Binnen zwei Minuten erhielt sie Nachricht von den Plänen für den Abend.
»Wir treffen uns um acht in einem Restaurant, das er kennt«, polterte Sheryl. »Er wird sogar noch einen Freund für dich auftreiben...«
»Nein, Sheryl...«
»Ich glaube, er hat nur Spaß gemacht«, lautete die Antwort. Sheryl erschien unter der Badezimmertür. »Er hat einen merkwürdigen Humor«, sagte sie. »Weißt du, wenn man nicht sicher ist, ob jemand einen Witz macht oder nicht? So ist er.«
Großartig, dachte Lori, ein gescheiterter Komödiant.
Aber es hatte etwas unbestreitbar Tröstliches, zu Sheryl und ihrer kindlichen Leidenschaft zurückzukehren. Ihr endloses Gerede von Curtis – das Lori nicht mehr vermittelte als das Straßenmalerporträt eines Mannes; nur Oberfläche, keinerlei Einsichten – war die perfekte Ablenkung von Gedanken an Midian und seine Enthüllungen. Der Spätnachmittag war so sehr von Heiterkeit und den Ritualen erfüllt, sich auf einen Abend in der Stadt vorzubereiten, daß sich Lori einmal sogar fragte, ob das, was auf dem Friedhof geschehen war, keine Halluzination gewesen sein konnte. Aber sie hatte Beweise, die ihre Erinnerungen bestätigten: den Schnitt neben dem Mund, den der schnappende Ast erzeugt hatte. Es war ein winziges Zeichen, aber der heftige Schmerz hielt sie davon ab, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Sie hatte Midian besucht. Sie hatte den Gestaltveränderer in den Armen gehalten, und sie hatte auf der Treppe der Gruft gestanden und in ein so umfassendes Miasma hinabgesehen, daß es den Glauben eines Heiligen hätte verderben können.
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Die unheilige Welt unter dem Friedhof war zwar von Sheryl und ihren
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