Cabal - Clive Barker.doc
endlich Frieden mit seinen Visionen geschlossen hatte. Oh! Die Freude zu sehen, wie diese Möglichkeit freigesetzt, wie ihr vergeben wurde; das Vergnügen, über diese menschliche Herde zu kommen und zu sehen, wie sie vor ihm flüchtete.
Er roch ihre Hitze und gierte danach. Er sah ihr Entsetzen, das ihm Kraft gab. Diese Leute stahlen solche Autori-tät für sich. Schwangen sich zu Richtern über Natürlich und Unnatürlich, Gut und Böse auf, rechtfertigten ihre Grausamkeit mit scheinheiligen Gesetzen. Nun sahen sie ein einfacheres Gesetz am Wirken, während ihre Eingeweide sich an ihre älteste Angst erinnerten: die Angst, Beute zu sein.
Sie flohen vor ihm, und in ihren ungestümen Reihen machte sich Panik breit. Die Gewehre und Steine wurden im Chaos vergessen, als sich Schreie nach Blut in Schreie nach Flucht verwandelten. Sie trampelten einander in ihrer Hast nieder, sie schlugen um sich und erkämpften sich einen Weg ins Freie.
Einer der Bewaffneten blieb stehen, oder aber der Schock nagelte ihn auf der Stelle fest. Wie auch immer, Boones anschwellende Hand riß ihm das Gewehr aus den 232
Händen, und der Mann stürzte sich in die Menschentraube, um einer weiteren Konfrontation zu entkommen.
Draußen, auf der Straße, herrschte noch Tageslicht, und Boone graute davor, dort hinauszugehen, aber Narcisse hatte solche Hemmungen nicht. Nachdem der Weg frei war, schritt er hinaus in die Helligkeit und drängte sich unbemerkt durch die flüchtende Menge zum Auto.
Boone konnte sehen, daß sich draußen einige Kräfte neu gruppierten. Eine Menschentraube auf dem gegen-
überliegenden Gehweg – vom Sonnenschein und der Entfernung von der Bestie ermutigt – unterhielt sich hitzig miteinander, als würden sie streiten. Fallengelassene Waffen wurden vom Boden aufgehoben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Schock angesichts von Boones Verwandlung abklang und sie ihren Angriff von neuem anfingen.
Aber Narcisse war schnell. Als Lori die Tür erreichte, saß er schon im Auto und hatte es angelassen. Boone hielt sie zurück, die Berührung seines Schattens (den er wie Rauch hinter sich herzog) reichte völlig aus, den letzten Rest von Angst vor seinem verwandelten Fleisch, den sie noch gehabt haben mochte, zu vertreiben. Sie stellte sich sogar vor, wie es sein würde, in dieser neuen Gestalt mit ihm zu ficken; für den Schatten und die Bestie in seinem Herzen die Beine breitzumachen.
Jetzt kam das Auto in einer Wolke seiner eigenen Ausdünstungen quietschend vor der Tür zum Stillstand.
»Geh!« sagte Boone und stieß sie durch die Tür. Sein Schatten wallte über den Gehweg, um die Sicht des Feindes zu beeinträchtigen. Mit gutem Grund. Ein Schuß zerriß die Heckscheibe, während sie sich ins Auto warf; ein Steinhagel folgte.
Boone war bereits neben ihr und schlug die Tür zu.
»Sie werden uns verfolgen!« sagte Narcisse.
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»Laß sie«, war Boones Antwort.
»Nach Midian?«
»Das ist jetzt kein Geheimnis mehr.«
»Stimmt.«
Narcisse trat das Bein durch, und das Auto schoß davon.
»Wir führen sie in die Hölle«, sagte Boone, als vier Fahrzeuge die Verfolgung aufzunehmen begannen,
»wenn sie dorthin wollen.«
Seine Stimme drang kehlig aus dem Rachen der Kreatur, zu der er geworden war, aber das Lachen, das folgte, war Boones Lachen, als hätte es schon immer zu dieser Bestie gehört; ein ekstatischerer Humor als seine menschliche Natur beherbergen konnte, der endlich seinen Zweck und sein Gesicht gefunden hatte.
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XXII
Triumph der Maske
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Wenn er niemals wieder einen Tag wie heute erleben würde, dachte Eigerman, würde er sich vor dem Herrn über wenig zu beschweren haben, wenn er schließlich zu ihm gerufen würde. Zuerst der Anblick von Boone in Ketten. Dann hatte er das Kind herausgetragen, vor die Kameras, und gewußt, morgen früh würde sein Gesicht in jeder Zeitung des Landes zu sehen sein. Und jetzt dies: der herrliche Anblick von Midian in Flammen.
Es war Pettines Einfall gewesen, und zwar ein verdammt guter, brennendes Benzin in die Grüfte zu schütten, um ans Licht herauszutreiben, was sich unter der Erde versteckte. Das hatte besser funktioniert als sie erwartet hatten. Als der Rauch dicker geworden war und das Feuer sich ausgebreitet hatte, hatte der Feind keine andere Wahl mehr gehabt, als seine Schlangengrube zu verlassen und ins Freie zu kommen, wo das Sonnenlicht vielen auf der Stelle den Garaus gemacht hatte.
Aber nicht allen. Manche hatten Zeit gehabt, ihre
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