Cachalot
Strömung die letzten schwimmenden Fragmente der Stadt Vai’oire davongetragen. Alles, was den fünf Flüchtlingen irgendwie im entferntesten Sinne nützlich sein konnte, war von ihnen festgehalten und gesichert worden. Und da Cora sich nicht damit zufrieden geben wollte, nur im Wasser zu treiben und nachzudenken, versuchte sie, ernsthafte Arbeit zu leisten.
Als sie damit beschäftigt war, ein besonders interessantes anemonenähnliches Geschöpf zu studieren, schwamm Dawn auf sie zu. Aus dem hinteren Teil ihrer Atemeinheit stiegen Blasen wie klares Gelee auf.
»Sie dürfen Sam nicht die Schuld geben, wissen Sie.«
»Was? Wie kommen Sie darauf, daß ich Sam für irgend etwas die Schuld gebe?«
»Ich habe gesehen, wie Sie ihn beobachten und auf seine Anwesenheit reagieren«, sagte das Mädchen. »Man merkt das an der Art und Weise, wie Ihr Körper sich bewegt, und an Ihren Augen hinter Ihrer Maske.«
Cora wandte sich von dem purpurfarbenen Fächer ab, den sie untersucht hatte, und sah sich um. Sie und Dawn waren allein. Der Gesichtsausdruck des Mädchens war von der Maske verzerrt. Nur ihre Augen waren zu sehen.
»Sam – Sams Problem ist es, daß er jeden ganz echt liebt«, erklärte Dawn. »Sie dürfen in mir keine Rivalin sehen.«
Cora wandte nervös den Blick ab. Genauso hatte sie sie gesehen.
»Das war nicht nur ich, wissen Sie«, fuhr die junge Frau fort. »Ich glaube, Sam kennt die Hälfte aller Frauen auf Cachalot. Alle mögen sie ihn und treiben es mit ihm. Warum sollten wir auch nicht? Er ist ein wunderbarer, reizender Mann. Aber als ständiger Partner?« Sie schüttelte heftig den Kopf, aber der Wasserwiderstand ließ die Bewegung ungewollt höchst behäbig erscheinen.
Cora vergewisserte sich, daß ihr Sprechgerät so geschaltet war, daß dieses Gespräch nicht von den anderen gehört werden konnte. »Wie kommen Sie darauf, daß ich in Sam mehr als nur… «
»Ach, kommen Sie«, schalt sie Dawn. »Sie sind genauso durchsichtig wie das Wasser hier. Wollen Sie denn nicht begreifen, daß ich Ihnen helfen will?«
»Sie sollten mir keine Gefälligkeiten erweisen«, erwiderte Cora kühl.
»Sam – er…« Das Mädchen blickte nachdenklich. »Er ist einfach nicht der Mann, um nur eine Frau zu lieben. Es gibt Männer und Frauen, die so sind. Er liebt wirklich jeden und fühlt – wenn er auch dieses Gefühl vielleicht nicht zum Ausdruck bringen kann –, daß er diese große Liebe ringsum verbreiten sollte.«
»Ich glaube, Sie und ich haben eine unterschiedliche Definition für Liebe.«
»Kann schon sein, daß wir das haben, Miß Xamantina. Kann schon sein.«
»Nennen Sie mich Cora.«
»Danke.« Dawn lächelte dankbar. »Das werde ich gerne tun. Ich will Ihnen wirklich nur raten, glauben Sie mir. Es ist wirklich absurd, wenn Sie in mir eine Rivalin um Sams dauernde Zuneigung sehen. Um etwas, das es nicht gibt, kann man nicht konkurrieren.«
»Das müßte sich noch weisen. Sie scheinen sich ja Ihres Urteils über Sam und sich selbst sehr sicher zu sein.«
»Es ist nicht nur Sam«, sagte das Mädchen eigenartig nachdenklich. »Das ist Cachalot. Sam ist hier geboren. Genau wie ich. Wenn Sie hier geboren wären, würden Sie seine Einstellung besser verstehen, als Sie das anscheinend tun. Die Konkurrenz ist stärker, als Sie sich vorstellen, und doch ist es in Wirklichkeit gar keine Konkurrenz.«
»Wenn Sie jetzt versuchen, mich zu verwirren, kann ich Ihnen nur sagen, daß ich eigentlich nicht viel von Rätseln halte.«
»Nein, ich versuche nicht, Sie zu verwirren.« Dawn seufzte, teils resigniert, teils verzweifelt.
»Dann sagen Sie mir doch gerade heraus, wovon Sie reden.«
Die junge Frau zögerte. »Ich glaube, es wäre vielleicht besser für Sie, wenn Sie das selbst herausfinden würden. Ich bin ohnehin nicht sicher, ob Sie mir glauben würden.«
»Sie packen das immer noch recht ungeschickt an, wenn Sie versuchen, mich durch Verwirrung und Geheimnistuerei von ihm abzulenken.«
»Schon gut.« Dawn wandte sich ab und schickte sich an wegzuschwimmen. »Vergessen Sie es!«
»Einen Augenblick!« Cora streckte die Hand aus. »Was auch immer geschieht, Sie sollten wissen, daß mir all diese Vernichtung von Leben hier schrecklich leid tut. Ich weiß, daß mit dieser Stadt wahrscheinlich so ziemlich alle Menschen, die Sie gemocht oder geliebt haben, zugrunde gegangen sind. Aber ich habe in meinem eigenen Leben zuviel durchgemacht, um meine Chance auf einen Mann wie Sam aufzugeben. Ich habe versucht,
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