Cachalot
»Keiner von beiden. Ich habe immer wieder gerufen. Keiner hat reagiert.« Er zwang sich, weiterzusprechen. »Keine einzige Leiche habe ich gesehen. Was, zum Teufel, machen die denn mit den Leichen?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Cora vorsichtig. »Selbst der Schlund eines Blauwales ist zu klein, als daß ein ganzer Mensch hindurchginge. Sie haben auch nichts, womit sie einen zerkauen könnten.« Rachael sah so aus, als würde ihr jeden Augenblick übel werden. »Und außerdem, warum sollten sie denn nach so vielen Millionen Jahren von einer Krilldiät auf so viel gehaltvollere Nahrung übergehen?«
»Was machen sie dann aber mit den Leichen?« murmelte Sam erneut.
Keiner hatte eine Ahnung. Das war der Punkt, wo Dawn plötzlich die ganze Tragweite des Geschehens begriff. Sie wechselten sich dabei ab, ihr gut zuzureden, sie zu beruhigen. Nur Cora hielt sich abseits. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, verursachten ihr Übelkeit; ein ganz natürlicher Wunsch, der Wunsch nämlich, Dawn wäre mit dem Rest der Stadt zugrunde gegangen. Wie dünn doch die Tünche der Zivilisation ist, sagte sie sich angewidert.
Aber Rachael und Merced verstanden sich ohnehin besser darauf, das Mädchen zu beruhigen. Cora verdrängte alle persönlichen Gedanken aus ihrem Bewußtsein, indem sie sich ganz und gar auf das vorliegende Problem konzentrierte.
»Wir haben genug Nahrungskonzentrate in unseren Anzügen, um es vier oder fünf Tage auszuhalten.« Sie zog sich auf die glatte Oberfläche des Vorsprungs und schob ihre Maske zur Seite. »Wir können hier nicht ausruhen, ohne schwimmen zu müssen, und auf diese Weise Kräfte sparen.« Sie sah Sam an. »Und dann finden wir ja auch sicher hier irgend, etwas, um unseren Speisezettel etwas zu ergänzen«. Sie deutete auf all das, Treibgut rings um sie. »Hier sollte ja auch etwas Brauchbares sein, auch etwas zu essen. Am besten fangen wir mit der Suche gleich an, ehe die Strömung es außer Reichweite trägt.« Und außerdem, dachte sie bei sich, bringt uns das auch auf andere Gedanken.
Selbst Dawn beteiligte sich an der Suche. Sie verbarg ihr Schluchzen hinter ihrer Maske. Sie fanden eine beträchtliche Menge an verpackten Lebensmitteln, die im Wasser trieben. Der größte Teil davon war ungenießbar. Entweder waren die Vakuumsiegel geplatzt, oder es war nur für automatische Kocheinheiten bestimmt. Aber es gab auch einiges, das sowohl intakt als auch ohne Zubereitung eßbar war.
Eine Menge zerfetzter Kabel schwamm an ihnen vorbei wie gelber Seetang. Sie benutzten die Kabel dazu, die Lebensmittelpakete an den Spitzen einiger Vorsprünge am Riff festzubinden. Außerdem hatte das noch den Vorteil, daß man die Pakete aus der Luft würde sehen können, falls zufällig ein Gleiter vorbei kam.
Merced machte den Vorschlag, einen oder zwei ihrer Notsender einzuschalten, die sie an den Gürteln ihrer Gelanzüge trugen. Mataroreva widersprach. Bis jetzt bestand immerhin noch die Möglichkeit, daß irgendwie Menschen hinter den Angriffen standen. Wenn sie jetzt ein Notsignal sendeten, dann könnte das dazu führen, daß am Riff andere unerwünschte menschliche Besucher auftauchten. Außerdem würde das Ausbleiben jeglichen Funkverkehrs seitens der Stadt ohnehin recht bald zu einer Untersuchung führen.
Und dann stießen sie völlig unerwartet auf drei dicht beieinander schwimmende wasserdichte Behälter, die aus ihrem eigenen, inzwischen gesunkenen Fahrzeug stammten. Zwei enthielten die wissenschaftlichen Geräte für das Studium des Lebens unter Wasser. Das war zum Lachen, dachte Cora. Sie würden die nächsten Tage nichts anderes tun, als das Leben unter dem Wasser studieren, vielleicht sogar Wochen, bis jemand auf die Idee kam, einen Gleiter oder ein Schiff auszusenden, um nachzusehen, weshalb die Stadt Vai’oire nicht mehr auf Signale reagierte.
Sie wußte selbst nicht recht, ob sie sich über den Inhalt des dritten Behälters freuen oder enttäuscht sein sollte. Er war mit persönlicher Habe angefüllt, die jetzt niemandem nützte, auch wenn Rachaels Neurophon darunter war. Ihre Tochter war natürlich vor Freude überglücklich. Zu Coras großer Erleichterung ging sie freilich nicht das Risiko ein, das empfindliche Instrument zu spielen, so sehr sie das auch entspannt hätte.
Nicht daß ein wenig Wasser der abgedichteten Festkörperelektronik hätte gefährlich werden können, aber Rachael wollte einfach nicht riskieren, das Gerät ins Wasser fallen zu lassen.
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