Cäsar Birotteau (German Edition)
folgte seinem Kompagnon in dem qualvollen Zustande eines zum Tode Verurteilten, der Berufung gegen das Urteil eingelegt hat und die Verwerfung seiner Berufung vor Augen sieht.
»Mein teurer Wohltäter«, sagte Popinot, »ich bin Ihnen blind ergeben. Zweifeln Sie nicht daran! Erlauben Sie mir nur die eine Frage: Werden Sie mit dieser Summe gänzlich gerettet oder verzögern Sie damit nur die Katastrophe? Was für einen Zweck hätte es, mich mit hineinzuziehen ? Sie brauchen einen Vierteljahreswechsel... ich kann ihn in drei Monaten unmöglich bezahlen ...«
Birotteau wurde leichenblaß. Zeremoniell stand er auf und sah Popinot an. Erschrocken rief der aus:
»Wenn Sie es verlangen, stelle ich den Wechsel aus ...«
»Undankbarer!« sagte Birotteau. Er hatte seine letzten Kräfte zusammengerafft, um dieses Wort wie einen Bannfluch gegen Anselm zu schleudern.
Dann ging er zur Tür und entfernte sich.
Als sich Popinot von der Bestürzung, In die ihn das schreckliche Wort versetzt hatte, ein wenig erholte, eilte er die Treppe hinunter und lief hinaus auf die Straße. Aber Birotteau war nicht mehr zu sehen.
Dem Liebenden wollte das furchtbare Wort nicht aus den Ohren. Er hörte es wieder und wieder. Und dazu erschien ihm vor seinen geistigen Augen das verhärmte Gesicht Cäsars und wich nicht.
Birotteau taumelte wie ein Trunkener durch die Straßen. Schließlich gelangte er an die Seine, an der er hinlief bis nach Sèvres, wo er in einem Gasthause übernachtete. Er war sinnlos vor Schmerz.
Seine Frau wagte es vor lauter Angst nicht, ihn suchen zu lassen. Unter solchen Umständen verdirbt ein unbedachtsamer Alarm nur noch mehr. Die kluge Konstanze opferte daher ihre Ruhe dem kaufmännischen Interesse. Die ganze Nacht hindurch wartete sie, bald weinend, bald betend.
War Cäsar in den Tod gegangen? Oder machte er, einem letzten Hoffnungsstrahl nachrennend, irgendwo außerhalb von Paris einen Versuch seiner Rettung ?
Am folgenden Vormittag benahm sie sich so, als kenne sie den Anlaß seiner Abwesenheit. Als Cäsar aber um fünf Uhr nachmittags noch nicht heimgekehrt war, schickte sie zu ihrem Onkel und ließ ihn bitten, nach der Morgue zu gehen. Währenddem saß sie gefaßt im Kontor; ihre Tochter, mit einer Stickerei beschäftigt, neben ihr. Voll Selbstbeherrschung, weder traurig noch freundlich, bedienten sie beide die Kunden.
Endlich kam Pillerault und brachte Birotteau mit. Er hatte ihn – als er von der Börse kam – im Palais Royal erwischt, gerade, als er in eine Spielhölle treten wollte. Es war der Vierzehnte. Bei Tisch vermochte Cäsar nichts zu essen. Er war zu angegriffen, als daß sein Magen Speisen hätte vertragen können. Die Stunden nach der Mahlzelt waren wiederum schrecklich. Der Parfümhändler machte zum hundertstenmal jenes gräßliche Hangen und Bangen zwischen Hoffnung und Verzweiflung durch, die ganze Tonleiter der Gefühle von der höchsten Freude bis zum tiefsten Kummer. Schwache Naturen wie er werden dabei zu Tode erschöpft.
Da stürzte Derville, Birotteaus Rechtsanwalt, in den luxuriösen Salon, in dem Konstanze ihren Mann mit aller Gewalt zurückhielt. Am liebsten hätte er sich oben in irgendeiner Dachkammer aufgehalten, nur um »die Denkmäler seiner Torheit« – wie er sagte – gar nicht mehr zu sehen.
»Der Prozeß um die vierzigtausend Francs ist gewonnen!« verkündete der Anwalt.
Bei dieser Meldung glättete sich das faltenreiche Gesicht Birotteaus. Pillerault und Derville erschraken vor seinem Stimmungsumschwung. Die beiden Frauen verließen den Salon und gingen in Cäsarines Zimmer, um dort zu weinen.
»Ich habe also neuen Kredit ?« fragte Cäsar.
»Ich halte es aber für unvernünftig, ihn in Ansprach zu nehmen«, entgegnete Derville, »Die Verurteilten können Berufung einlegen. Die zweite Instanz könnte anders entscheiden. In vier Wochen werden wir das Endurteil haben.«
»In vier Wochen!«
Birotteau verfiel in einen tiefen Schlaf, aus dem ihn niemand zu wecken wagte. Dieser Zustand, in dem sein Körper lebte und litt, während die Gehirnfunktion aussetzte, diese vom Zufall gewährte Ruhepause erschien den vier anwesenden Personen wie eine Gnade Gottes. Auf die Weise kam Birotteau über die Seelenqualen der Nacht.
Er schlief in einem Lehnstuhl neben dem Kamin. Bei ihm wachte seine Frau, die ihn aufmerksam beobachtete. Um ihre Lippen schwebte ein sanftes Lächeln, eins jener Merkmale, die beweisen, daß die Frauen dem Wesen der Engel näher sind als die Männer.
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