Café der Nacht (German Edition)
Neuzugänge der Theaterensembles wurden erst einmal äußerst kritisch beäugt. Maxim hatte Vida seit Ariels Einzug im Café kein einziges Mal gesehen. Niemand hatte das. Irgendetwas ging vor, rumorte in Monroe. Maxim konnte es förmlich sehen. Monroe hatte sich eigenartig verändert. Bei den wenigen Gelegenheiten, an denen Ariel herunterkam und sich zu ihnen gesellte, suchte er stets zielsicher Monroes Nähe. Als sei er ein Feuerschein, an dem er sich wärmen müsste. Obwohl Monroe dann seltsam schweigsam wurde und passiv-abweisend, wie es gar nicht zu ihm passte, schien zwischen beiden doch eine unvergleichliche Intimität zu liegen. Maxim versetzte das jedes Mal einen Stich. Nur Dela schien glücklich, wenn sie beide zusammen sah. Überhaupt war Dela so lebendig, seit Ariel bei ihnen lebte. Behutsam drängte sie sich nicht auf, sondern ließ Ariel alle Zeit, auf sie zuzukommen. Der geniale Maler schien sich ihr nah zu fühlen, und gleichsam doch niemals wirklich aus sich herauszukommen. In der Tat war Monroe der Einzige, um den Ariel sich zurückhaltend bemühte. Doch Monroe schien diese Freundschaft zurückweisen zu wollen, und tat es doch nie ganz. Dann wieder fand Maxim beide unerwartet beisammen, in ein Gespräch versunken. Leise redend, sachte, sachte, Abstand haltend.
* * *
Ariel war nicht glücklich mit dem trüben Licht in der Mansarde, durch deren Gauben der Regen ein rinnendes Schattenspiel warf. Regen nahm der Farbe ihre Leuchtkraft. Er hasste es, bei künstlichem Licht zu arbeiten, doch bei solchem Wetter war es unumgänglich. Die Stille wollte nicht kommen, in seiner Stirn pochte dumpfer Kopfschmerz. Er hörte das Rauschen laut in seinen Ohren heute, wie ein Raunen Abertausender Stimmen. Das Rauschen war immer da gewesen, so lange er sich zurückerinnern konnte. Meditative, sanfte Ruhe erfüllte ihn nur, wenn er arbeitete. Aber heute wollte die Stille nicht kommen, und die Farben stimmten nicht.
Ariel legte stirnrunzelnd seinen groben Pinsel beiseite. Er trat einen Schritt zurück, die Augen noch auf der Leinwand. Noch einen Schritt, noch einen Schritt. Es fehlte nach wie vor. Das Bild hatte kein Herz. Es lungerte an den Rändern herum und wollte nicht hervorkommen. Er wandte sich ab und ging zum Fenster an der Stirnseite hinüber, das auf den Platz hinunterging. Kastanie, Aesculus hippocastanum, kraftvolle Zweige, große, fingerförmige Blätter matt im Regen hängend, oberseits sattgrün, unterseits bleichgrün beflaumt. Ein Amselmännchen betrachtete ihn unverwandt, das Gefieder unbehaglich aufgeplustert. In der Etage unten Schritte, polternd, dumpf auf dem alten Holzboden. Frauenstimme, ungehalten. Der schwere, süßliche Geruch von Kartoffelsuppe. Es war in diesem Haus nie still, zu viele Menschen, zu viele Leben, kommend, gehend, kommend, summend. In Wien war es nicht stiller gewesen, die Gleise hinter dem Haus ewig donnernd. Der Ortswechsel nach München machte kaum einen Unterschied. Die bohrende Leere war geblieben.
Delilah Mary Morgan, seine leibliche Mutter, dasselbe Blut. Als Kind hatte Ariel die Geschichte von „der Frau“ immer wieder hören wollen, die seine Mutter ihm erzählt hatte. Sorgsam zugedeckt, La Paz, Bolivien, das flirrende Lichtermeer des Talkessels durchs Fenster hineinlugend, dessen Läden immer offenbleiben mussten, damit er schlafen konnte. Er konnte den Wortlaut der Geschichte noch heute auswendig:
Die Frau besaß nichts, keinen Mantel, keinen Stuhl, kein Bett, kein Holz, mit dem sie im Winter den Ofen in ihrer armseligen Hütte schüren konnte. Als sie aber ein Kind bekam, da wollte sie, dass ihr Kind all das hatte. Deshalb gab sie es zu einem kinderlosen Königspaar, das all das besaß und noch viel mehr. Sie hatten so viel Holz, so viele Möbel und so viele Kleider, dass sie sich nie ums Morgen sorgen mussten. Und sie liebten das Kind wie ihr eigenes, und die Frau war glücklich und lebte zufrieden, weil ihr Kind es nun so gut hatte.
„War das Kind nicht traurig, Mama?“
„Warum sollte es traurig sein, mein Schatz? Es wurde doch von allen geliebt.“
Mit vier wusste Ariel längst, dass das Kind trotzdem traurig sein musste. Niemand hatte es nämlich gefragt, was es selbst am liebsten wollte. Wer bin ich? Woher komme ich? Fragen, die ihn sein Leben lang beschäftigt hatten.
Der erste Blick auf Dela, ein Sehnen. Das Bewusstsein, dass dies ein besonderer Moment war, ein emotionaler Moment, und nichts zu fühlen. Sein Körper kannte nur noch zwei
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