Café der Nacht (German Edition)
Weisen des Empfindens, die schweißnassen Panikattacken, das Vernichtungsgefühl, keine Luft bekommen, Wände, die herabsanken – und die Zeiten tauber, dumpfer Leere, in denen es in seinen Ohren rauschte. Zeiten, in denen die Dinge nicht richtig waren, er surreal, zerfallend. Es gab nur dann Frieden und Realität, wenn er arbeitete. Manchmal eine Wärme, leise Verzückung, wenn er ganz versunken war. Lorazepam war die Reaktion seiner Mutter und der Ärzte gewesen, als man die Angststörung diagnostiziert hatte. Er wusste nicht mehr, wie er davor gefühlt hatte. Wie man fühlte, wenn man richtig war.
Es tat ihm leid, schrecklich leid, er fühlte sich schuldig, weil er Delas überglücklichem Strahlen, den kullernden Freudentränen nur ein Lächeln zu entgegnen gehabt hatte. Er konnte sie halten, sich an sie drücken lassen, und hilflos hoffen auf ein Gefühl, das nicht kam. Auf Befreiung.
Ariel wusste, er hätte Vida damals nicht fortschicken dürfen. Sie hatte ihn auf die einzige Art lieben lassen, die ihm möglich war. „Ich will dich“, hatten die anderen gesagt, ihn angefasst, ihm ihre Küsse aufgedrückt, ihre Zungen in seinen Mund gestoßen, invasiv, drängend, keuchend, scharlachrot. „Sag mir, dass du mich liebst“, hatten sie gefordert, gedroht. Vida war elfenbein und zartes kadmiumgelb. „Zeichne es mir“, hatte sie lächelnd gemeint. „Du brauchst sonst nichts zu tun.“ Ariel würde diese Bilder niemals ausstellen, niemals teilen. Weil sie das Beste waren, das je aus seinen behutsamen Fingerbewegungen erwachsen war. Weil er gefühlt hatte, als er sie zeichnete, so viel gefühlt. Es war still und warm gewesen in seinem Herzen, staunend. Frieden, tiefer Frieden. Vida war real, die Welt war Illusion. Es spielte keine Rolle, was Dean sagte, er kannte seine Seele. Er wusste, was Wahrheit war.
Ariel hatte Vida freigegeben wie den Kanarienvogel, der noch für seinen Besitzer singt, während der Eisenkäfig ihn bereits erdrückt. Vida durfte nicht in seiner Lautlosigkeit bleiben. Vida musste fliegen, über die Dächer, die Pinientäler, über den Rand der Welt. Vida konnte Sterne fangen, hineinwischen ins Abendrot. Vida durfte man so wenig festhalten, wie man die Wahrheit halten kann.
* * *
An einem der kühlen, verregneten Nachmittage, an denen es behaglich auf die Dachziegel über ihnen tröpfelte, als ob Fingerspitzen darauf herumtänzelten, raffte Maxim sich schließlich dazu auf, Ariel nach den Kisten zu fragen. Schon lange hatte es ihm auf der Zunge gelegen, ihn die Neugier gekitzelt. Sie waren groß, gemeinsam mit ihm eingezogen. Nie ausgepackt, schienen sie unzweifelhaft seine Kunstwerke zu enthalten.
Ariel lächelte, während er damit beschäftigt war, einen speziellen Farbton zu mischen. „Du kannst sie gerne aufmachen, wenn du möchtest.“
Maxim ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Er begann in der hintersten Ecke der Mansarde und hebelte die erste Kiste mit dem bereitliegenden Utensil auf. Holzwolle starrte ihm entgegen. Nun konnte er die Bilder vorsichtig aus der Verpackung befreien. Die folgenden Stunden verflogen in staunender Versunkenheit. Es würde weit mehr als einen Nachmittag dauern, alles auszupacken und sicher zu verstauen. Maxim kam sich vor, als dürfte er in Aladins Schatzkammer herumstöbern. Er ließ sich viel, viel Zeit und Ruhe, jedes einzelne von Ariels Kunstwerken mit dem gebührenden Enthusiasmus zu betrachten, zu erforschen. Ariels Bilder waren wie Ausflüge in fremde Seelen. Äußere Landschaften, die zugleich von inneren Vorgängen sprachen. Manche seiner Bilder strahlten mit der Reinheit eines Tagesanbruchs. Andere klagten stumm. Und dann gab es Gemälde, die verstörend waren in der verzweifelten Isolation und Angst, die sie transportierten. Maxim wandte über die Schulter den Blick zu Ariel, der weltvergessen arbeitete, und empfand plötzlich eine dumpfe, beunruhigte Sorge um ihn. Er hatte das eigenartige Gefühl, dass man Ariel irgendwie beschützen müsste. Dabei schien es absurd, jemanden beschützen zu wollen, der kaum je das Haus verließ.
* * *
Am Folgetag stieß Maxim auf Stapel über Stapel von Studien, Skizzen, Rötel- und Bleistiftzeichnungen. Auch hingeworfene, filigrane Aquarelle waren darunter. Er konnte sich nicht sattsehen an den exzellenten Arbeiten. Selbst kleinste Dinge trugen Begnadetes in sich. Ariel konnte mit minimalem Aufwand Gesichter zeichnen, für die andere Stunden gebraucht und es letztlich doch nie vermocht
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