Cagot
den Canyon heraufgefahren gekommen waren.
Der Gedanke war beängstigend. Miguel konnte ohne weiteres hier irgendwo sein - jetzt, in diesem Moment. Er konnte jeden Augenblick auftauchen. David hatte das Bild des großen schwarzen Geländewagens noch ganz deutlich vor Augen, wie die Türen aufgeflogen waren.
Hab ich euch.
Wirbelnder gelber Sand wand sich wie Schlangen aus Staub über die Straße. Sie waren wieder in der Wüste, fuhren durch die Wildnis. Angus holte die Karte heraus und studierte sie. Dann ließ er sich in den Sitz zurücksinken.
»Da! Seht!«, schrie er plötzlich.
David geriet in Panik. Er ließ seinen Blick schweifen, sah aber nichts. War Miguel irgendwo?
Angus deutete immer noch. »Seht euch das an. Was für ein Bild. Seht euch dieses Pferd an!«
Es war also nicht Miguel. Mit einem absurden Gefühl der Erleichterung reckte David den Hals und spähte mit Amy aus dem zerkratzten Autofenster.
Zuerst war nichts zu erkennen. Aber dann sah er es: Klein und einsam galoppierte ein Pferd über die unbefestigte Straße. Und dann kamen weitere - Dutzende, nein Hunderte; sie sprangen und tollten in der flimmernden Hitze im Sand herum.
Angus geriet ins Schwärmen.
»Die Wildpferde der Namib. Ich liebe diese Tiere. Sie sind die letzten Überbleibsel der Schutztruppe - des deutschen Kolonialheers. Die Pferde entkamen und verwilderten wieder.« Seine Miene hatte fast etwas Verklärtes, als er das unwirkliche Schauspiel beobachtete. Es war wie in einem Traum. »Und jetzt sind sie die einzigen wilden Wüstenpferde der Welt - sie haben sich zu einer neuen Spezies entwickelt, die der extremen Trockenheit hier besonders gut angepasst ist.« Angus setzte sich wieder zurück. »Ich finde, sie sehen aus wie die Seelen von Pferden, die vollkommen frei und ungebunden durch das Jenseits ziehen … genau deshalb ist es so schwer, das Land zu verlassen. Wegen Dingen wie diesen. Dort vorn ist schon der Flugplatz. Gleich hinter den Dünen.«
Das Auto kurvte um die letzten sanft gerundeten Sicheldünen und rollte auf einer weiten freien Fläche aus. Ihr Chauffeur hielt am Rand einer unwirklich bleichen Landepiste an.
Auf einem winzigen Stück Asphalt standen inmitten von sonnenversengtem Staub ein kleines Flugzeug und zwei Hubschrauber. Einer der Hubschrauber trug die Aufschrift Kellerman Namcorp. Seine Rotoren drehten sich bereits.
David wandte sich Angus zu. »Aber wohin sollen wir jetzt?«
»Nach Amsterdam…«
»Schon, aber dann?«
»Nach Zbiroh! Ein ehemaliges SS-Schloss. In Böhmen! Genaueres erkläre ich euch später - wir müssen uns beeilen. Miguel ist immer noch hinter uns her …«
Sie rannten über die Landepiste. Neben dem Hubschrauber stand ein Mann mit einer tiefhängenden Maschinenpistole, der sie erstaunt beäugte, als sie sich unter den knatternden Rotoren durchduckten.
»Angus?«
»Roger!«
Der Schwarze grinste.
»Angus, lange nicht gesehen, Mann!«
Angus schrie gegen den Lärm der sich immer schneller drehenden Rotoren an. Er steckte Roger etwas zu. Etwas aus dem schwarzen Samtbeutel? David vermutete, es waren Diamanten. Wahrscheinlich. Roger nickte und salutierte.
»Los, einsteigen!«, drängte Angus.
Roger winkte sie in den Hubschrauber. Schnell!
David und Amy kletterten an Bord und setzten sich. Angus folgte ihnen. Er wirkte angespannt und erschöpft. Sie schnallten sich an, und noch während ihre Sicherheitsgurte mit einem leisen Klicken einrasteten, startete der Hubschrauber.
Sie hoben ab.
David blickte nach draußen. Roger hatte sich abgewandt und zog sich geduckt von dem startenden Hubschrauber zurück. In der Ferne sah David ein einsames Wildpferd durch die Wüste galoppieren. Dann stiegen dichte Staubwolken um sie auf und hüllten sie in fahles Grau.
45
14.58, 14.59, 15.00.
Keine Spur von ihm. David schaute besorgt auf die Bahnhofsuhr.
15.02, 15.03, 15.04.
Angus stand neben ihm und sagte nichts - ausnahmsweise. Die Anspannung in seiner Miene war jedoch unübersehbar. Amy wirkte sehr niedergeschlagen.
Wie viel wusste sie bereits? Sie war merklich verändert, seit sie in Amsterdam gelandet und nach Nürnberg gefahren waren, wo sie sich am Hauptbahnhof mit Simon Quinn verabredet hatten. Warum? Ahnte sie inzwischen, dass er Cagot war? Oder reagierte sie lediglich auf seine veränderte Stimmungslage? Auf seine extreme Anspannung, seine abweisende Verschlossenheit, seine heftigen Stimmungsschwankungen, wenn er sein Inneres nach Antworten oder Trost oder Ruhe
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