Cagot
griff nach dem Adressbuch und fuchtelte damit vor Dreslers Gesicht herum.
»Ich kenne diese Handschrift! Diese winzige, ordentliche Schrift. Die Eintragungen auf der Rückseite der Straßenkarte meines Vaters stammen von Ihnen. Stimmt’s?«
Wieder schüttelte Dresler den Kopf. Und wieder konnte er damit niemanden überzeugen.
An dieser Stelle schaltete sich Angus wieder ein.
»Richtig. So muss es gewesen sein. Aber lass uns noch mal alle Punkte durchgehen. Alles, was wir bis jetzt herausgefunden haben …«
»Was?«
»Shark Island. Das hat dieser alte Sack doch gerade gesagt. Shark Island.«
»Wo ist das?«
»Nicht weit von hier. In Lüderitz! Hinter dem Hafen.« Angus wirbelte zu Dresler herum. Einen Moment schien es, als würde er den Kolben seiner Pistole auf den gesenkten Kopf des alten Nazis dreschen. Doch dann schien er sich eines Besseren zu besinnen. Er ließ die Pistole sinken und stieß voller Verachtung hervor:
»Los … wir haben nicht viel Zeit, und wer weiß, wo Miguel bereits ist. Unser Hubschrauber startet in zwei Stunden …«
Sie rannten zur Tür und ließen Dresler sabbernd und zitternd zurück. Ein Nazi, der im Inhalt seiner entleerten Blase kniete.
Die erbarmungslose Mittagssonne war wie eine Bestrafung, eine körperliche Züchtigung. Angus deutete nach Süden. Sie folgten der staubigen Straße, die zum Hafen führte.
An einer Ecke wühlten zwei Schwarze lustlos in Haufen aus fahlem Staub. Der allgegenwärtige Geruch von Fisch und Verwesung war unerträglich. Bleicher weißer Staub und heißer blauer Himmel - und ein alter Nazi, der in die Hosen gemacht hatte. Trotz aller Ängste regte sich wieder Hoffnung in David. Vielleicht gelang es ihnen doch noch, das Geheimnis zu lüften. Ihm wurde jetzt immer deutlicher bewusst, dass er das Geheimnis sogar lüften musste. Das Geheimnis, das seine Person umgab. Die Ungewissheit wurde zunehmend unerträglicher.
Die Straße endete an einem Tor.
»Das dort ist Shark Island.« Angus deutete auf eine ins Meer hinausragende Halbinsel. »Kommt…«
Sie gingen auf einem von verfallenen Betonmauern eingefassten Weg an der Küste entlang und blieben schließlich im Schatten eines verlassenen Lagerhauses stehen. Der Geruch des kalten, fischreichen Benguelastroms war in der brüllenden Hitze noch intensiver.
Angus gab ihnen eine kurze, nüchterne Einführung in die Geschichte des Orts.
»Shark Island war ursprünglich eine Insel, aber inzwischen ist sie durch einen aufgeschütteten Damm mit dem Festland verbunden. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts haben hier die Deutschen alle Witbooi zusammengetrieben und einfach sterben lassen.«
»Waren das nicht die Herero?«
»Nein. Das ist eine andere Geschichte, ein anderer Genozid. Ich weiß. Ich weiß.«
»Unfassbar.«
»Bei Gelegenheit werde ich euch das alles noch mal genauer erklären. Aber jetzt zeig mal die Karte, David, und vor allem diese handschriftlichen Eintragungen.«
Die kostbare alte Karte. David zog sie aus seiner Jacke. Die traurigen blauen Sternchen, die traurigen alten Falten. Und die Handschrift auf der Rückseite.
Angus hielt die Karte ganz dicht an seine Augen und studierte die winzige Schrift.
Er atmete aus. »Du hast vollkommen recht. Das ist Dreslers Handschrift. Eindeutig.«
Über ihnen kreisten Seemöwen; aus der Ferne drang das Brummen eines Namsea-Fischlasters herüber, der rückwärts in ein riesiges Lagerhaus fuhr.
»Das hier könnte eine Adresse sein.« David deutete auf die Karte. »Irgendwas mit >…straße<, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Ja. Aber …« Angus blickte von der Karte auf und schaute sich stirnrunzelnd um. Der Wind fuhr in sein rostrotes Haar. »Es ist auf jeden Fall eine Adresse, und sie hört sich deutsch an. Aber … hier gibt es keine Zugspitzstraße. Auch in Lüderitz nicht. Was soll das also mit Shark Island zu tun haben?«
»Vielleicht hat er uns … hereingelegt?«, sagte Amy.
»Nein«, sagte Angus entschieden. »Dazu hatte er viel zu viel Angst. Ihr habt es doch selbst gesehen: Er hat sich buchstäblich in die Hosen gemacht. Hier … auf Shark Island … muss etwas sein. Aber ich verstehe nicht, wo der Zusammenhang zu dem sein soll, was auf der Karte steht…«
Er ließ den Blick noch einmal über die bedrückende Szenerie wandern, über den staubigen Dunst, die verlassene graue Straße, die verfallenen Schuppen und Kais. Der heiße Wind trug das wehmütige Husten der Seehunde vom Strand herauf. »Wir brauchen etwas Deutsches. Hier.
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