Cagot
Davids Seele. Der Augenblick war gekommen. »Ja. Warum?«
»Das habe ich gerade gefunden. Und dabei ist mir ein Name ins Auge gefallen.« Er machte eine Pause. »Martinez …«
Er hielt David das Blatt Papier im Schein der Taschenlampe hin.
David griff danach und las es mit zitternder Hand. Las es ein zweites Mal mit zusammengeschnürter Brust. Er sah Amy an und dann Angus und dann wieder die Namensliste. Er konnte genügend Deutsch, um die Bedeutung zu erahnen: In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mit zitternder Hand gab er Angus das Blatt Papier zurück.
»Lies es bitte den anderen vor …«, sagte er.
Behutsam nahm Angus das Dokument an sich und begann vorzulesen. Es war die Geschichte, die Jose Garovillo David nicht erzählt hatte … ihm nicht hatte erzählen können.
»Dein Großvater … dachte, er wäre Cagot. Aber in Wirklichkeit war er gar keiner. Es stimmte nicht. Steht alles hier. Er war ein junger, aufmüpfiger Baske und galt im Lager bald als Unruhestifter. Um ihn kleinzukriegen und ihm das Maul zu stopfen, steckten ihn die Deutschen kurzerhand in den Cagot-Block, in die Baracken der verhassten Unberührbaren. Sie redeten ihm ein, dass er Cagot sei. Aber in Wirklichkeit war er Baske. Und das Gleiche gilt auch für dich, David. Du bist Baske.«
David sah Amy an. Er empfand unbeschreibliche Erleichterung, eine Art beschämter Freude. Aber Amys Miene blieb angespannt und verkrampft, aus ihr sprach nur Angst und Entsetzen.
Und dann verflog auch seine Freude und wich ähnlicher Bestürzung. Ausgelöst von einem einzigen Wort.
»Epa!«
49
Entsetzt beobachtete Simon, wie Miguel mit einem breiten Grinsen seine Pistole auf Angus und David richtete. Der Terrorist wurde von mehreren Männern begleitet, die Waffen, Benzinkanister und flache silberne Päckchen bei sich hatten. Wahrscheinlich Sprengstoff. Die Männer machten sich am Rand des unterirdischen Raums an die Arbeit.
Die vier Freunde waren so mit der endgültigen Enthüllung des Geheimnisses beschäftigt gewesen, dass sie das Nahen des Wolfs und seiner Männer nicht bemerkt hatten. Und jetzt war er da.
Und sah Amy lächelnd an.
»Amy. Esti. Muchas gracias, senorita.«
Sie starrte finster zurück, und ihre Stimme war gespenstisch monoton, als sie antwortete: »Ja … ich habe getan … was ich versprochen habe.«
»Das hast du.«
Miguel lachte. Ein tieftrauriges Lachen. David spürte unbändige Wut in sich wie ein aufziehendes Gewitter.
»Du, Amy? Du? Du hast uns verraten?«
Sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen.
Miguel pflanzte sich vor David auf. Sein Atem roch nach Rotwein. Er mischte sich mit dem Gestank des Benzins, das seine Männer wortlos über die Holzkisten schütteten. David musste sofort an den Geruch des Scheiterhaufens in Namibia denken. Damals hatte ihn Amy gerettet. Jetzt hatte sie ihn verraten.
Miguel nickte fast mitfühlend. »Ja, natürlich hat sie dich verraten. Weil sie mich liebt, mich immer geliebt hat. Was sollte ihr dein Leben schon bedeuten …«
Ohne Miguel zu beachten, fuhr David Amy aufgebracht an. Sie hatte den Kopf gesenkt und den Blick abgewandt. Vielleicht weinte sie.
»Du also? Schon die ganze Zeit? Du hast ihnen gesagt, wohin wir wollten? Dass wir nach Namibia geflogen sind? Du hinterhältige, falsche …«
Miguel ging dazwischen. »Genug, das reicht!«
Aber David schimpfte weiter auf Amy ein, die sich ganz in das Dunkel zurückgezogen hatte.
Miguels Lächeln verflog.
»Du darfst ihr das nicht übel nehmen. Sie ist eine Frau. Arrotz herri, otso herri. Und außerdem hat sie die einzig richtige Entscheidung getroffen, David. Alles andere wäre moralisch nicht vertretbar. Denn der Gute, der Held dieser Geschichte, bin ich. Wir sind die Guten. Verstehst du denn immer noch nicht? Wir stehen auf der richtigen Seite.« Miguels Augenlid zuckte leicht. »Wenn das Wissen, das in diesem Keller verborgen liegt, an die Öffentlichkeit käme, würden ganze Nationen, ganze Rassen und Volksgruppen … in den Krieg getrieben. Menschen, die keine Menschen sind? Eine Rasse, die einer anderen überlegen ist? Denk doch mal nach. Unterschiedliche menschliche Spezies würden anfangen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Man könnte Rassenhierarchien plötzlich legitimieren und die Nazi-Wissenschaft nachträglich rechtfertigen. Die demokratische Vielvölkerwelt - ein einziger Scherbenhaufen.«
»Aber die Wissenschaft lässt sich nicht aufhalten«, widersprach Angus. »Eines Tages werden diese
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