Cagot
nämlich noch einen zweiten Personenkreis, der das schreckliche Geheimnis von Fischers Experimenten hätte aufdecken können. Die Überlebenden von Gurs. Vor allem Cagots und Basken. Im Lager selbst hatten die Deutschen Fischers Forschungsergebnisse nämlich nicht geheim gehalten. Deshalb mussten die wenigen Überlebenden am Reden gehindert werden. Man erkaufte sich ihr Schweigen mit viel Geld. Die Gurs-Überlebenden wurden von der katholischen Kirche abgefunden, die ohnehin unter enormem Erklärungsdruck stand, weil ihre Geistlichen im Lager mit den Nazis kooperiert hatten. Dazu kam auch noch die Schande, die die Kirche durch ihr Schweigen zum Holocaust auf sich geladen hatte. Es wurde also Blutgeld gezahlt.
Darauf zerstreuten sich die Überlebenden in alle Welt und ließen sich in England, Kanada und Amerika nieder. Viele hatten zu dem Gurs-Geld wohl zeitlebens ein sehr zwiespältiges Verhältnis. Es war für sie unauflöslich mit den Schrecken von Gurs verbunden. Viele von ihnen rührten das Geld nie an und führten ein Leben in beschämter Zurückgezogenheit.«
»Und was geschah dann?«, fragte Amy.
»Zunächst nichts«, antwortete Angus. »Der Plan schien aufzugehen. Sowohl die Nazi-Ärzte als auch die Gurs-Überlebenden begannen nach und nach wegzusterben.«
»Nur an die Kellermans hatte niemand gedacht…«, sagte Amy.
Simon nickte.
»Ja. Die Kellerman-Dynastie im fernen Namibia. Sie hatte den Kontakt zu Fischer nie abreißen lassen, und einige von Fischers Nazi-Kollegen setzten sich nach dem Krieg sogar nach Namibia ab und fanden bei Kellerman Namcorp Unterschlupf.«
David blickte in die Runde. »Aber was sprang dabei für die Kellermans heraus?«
»Das kann ich euch beantworten«, erklärte Angus. »Die Kellermans hatten großes Interesse an Fischers Forschungsergebnissen und ganz besonders natürlich an ihren Konsequenzen für die Juden. Der alte Samuel Kellerman war nämlich ein überzeugter Anhänger von Levitikus 25, demzufolge es Gott den Juden gestattet hatte, die minderwertigen nicht jüdischen Völker zu versklaven.«
An dieser Stelle meldete sich Amy zu Wort. »Aber Nathan war doch…?«
»Natürlich, die jungen Kellermans waren anders … aber selbst wenn sie derlei Ansichten abgelegt hatten, waren sie dennoch weiterhin überzeugte Zionisten. Fest entschlossen, Israel wieder zur Heimat der Juden zu machen und als solche zu erhalten.«
»Und?«
Angus sah Amy an. »Nimm doch nur mal Israel als Beispiel, Amy. Du bist Jüdin, du kennst das doch. Schon seit den siebziger Jahren deuten sämtliche demographischen Erhebungen in Israel immer nur auf eines hin: dass die Juden irgendwann sogar in ihrer angestammten Heimat den NichtJuden zahlenmäßig unterlegen sein werden. Und wenn das eintritt, wäre Israels Sicherheit nicht mehr gewährleistet, und es käme vielleicht zu einem zweiten Holocaust.«
»Und aus dieser Situation hätten Fischers Forschungsergebnisse einen willkommenen Ausweg geboten«, erklärte Simon. »Wenn sich nämlich der Nachweis erbringen ließe, dass die Juden eine Subspezies sind, die anders geartet ist als alle nicht jüdischen Menschen - oder zumindest darauf hinsteuert -, könnte dies als Rechtfertigung dafür gelten, NichtJuden in Israel zu diskriminieren. Wieso sollte man zum Beispiel in einem Land, das den Juden vorbehalten ist, einer anderen menschlichen Spezies das Wahlrecht zugestehen…?«
Amy schüttelte den Kopf. »Homo judaicusl Das ist doch so was von peinlich!«
»Aber die dahinterstehende Logik ist nur zu offensichtlich«, entgegnete Angus ruhig. »Wenn die Menschen nicht universell gleich sind, gelten auch die universellen Menschenrechte nicht. Wenn die Juden nachweislich anders - sprich überlegen - sind, dann stehen ihnen auch andere - sprich mehr - Rechte zu. Jedenfalls, wenn man diesen Gedankengang auf die Spitze treibt.«
»Deshalb«, ergänzte Simon, »wollten also die Kellermans Fischers Forschungsergebnisse für ihre zionistischen Zwecke haben - und wenn daraus nichts geworden wäre, hätten sie die Experimente einfach wiederholt, um noch einmal dieselben Resultate zu erhalten, ist es nicht so?«
»Mhm.« Angus gestikulierte im Lampenlicht. »Erstere Möglichkeit kam allerdings nicht mehr in Frage. Denn niemand wollte ihnen verraten, wo sich die Unterlagen befanden. Somit blieb ihnen nur die zweite Möglichkeit. Die Wiederholung der Experimente. Aber die Wissenschaft hat siebzig Jahre gebraucht, um von neuem zu beweisen, was die Nazis bereits
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