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Cagot

Cagot

Titel: Cagot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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ernsthaft Gedanken gemacht. Wahrscheinlich wollte ich auch nie wirklich darüber nachdenken.«
    David schüttelte seufzend den Kopf. Dann nahm er einen Schluck Kaffee und blickte über den Fluss auf die alte Brücke. Er fragte sich, ob Miguel ihnen gefolgt war. Woher hatte Miguel gewusst, dass sie in der Hexenhöhle waren? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er sie überall finden würde, egal, wo sie sich versteckten, egal, wohin sie flohen.
    Das war auch kein Wunder. Entsetzt merkte David, dass Miguel sie in eben diesem Moment beobachtete. Von der Brücke aus.
    Das mittelalterliche Brückengeländer war von ETA-Graffiti übersät. In ungelenker Schrift war Viva Otsoko! auf die steinerne Brüstung gepinselt.
    Und neben das Wort Otsoko war mit einer riesigen primitiven und sehr eindrucksvollen Schablone der Kopf eines schwarzen Wolfs gesprüht.
    Der Wolf.
    Er war also hier. Immer und überall belauerte er sie. Er beobachtete sie sogar dabei, wie sie ihre Croissants mit Kirschmarmelade aßen.
    Mit einem Schluck Milchkaffee spülte David den bitteren Nachgeschmack dieses Gedankens hinunter. Dann blickte er entschlossen über den Fluss und die Brücke hinweg auf die grauen Mansardendächer von Mauleon.
    Auf der anderen Seite des rauschenden Gebirgsflusses war ein Kirchturm zu sehen, eine Reihe geparkter Renaults und Citroens und eine hübsche Frau Mitte dreißig, die mit einem aus ihrer Tasche herausragenden Baguette aus der Boulangerie kam. Im Schaufenster der Bäckerei wurden Gateaux basque angepriesen, die üppigen Kuchen mit Lauburus aus weißem Zuckerguss auf dem gelben, dick mit Kirschmarmelade gefüllten Biskuit.
    Seine Blicke folgten der hübschen blonden Frau. Sie erinnerte ihn an seine Mutter.
    Und jetzt, endlich, öffnete sich die tiefe Wunde wieder, in Echtzeit. Ein Gateau basque, in zwei Teile geschnitten, sodass die Füllung aus roter Kirschmarmelade herausquoll.
    Er hatte die Szene in lebhafter Erinnerung. Misses Anderson, die Freundin seiner Mutter, die sich mit roten Augen in sein Zimmer schob, um ihm die Nachricht zu überbringen; wie sie zögerte, dann schluchzte, sich dann entschuldigte und ihm dann endlich stockend erzählte, was mit seinen Eltern passiert war. Ein Autounfall in Frankreich.
    David hatte versucht, tapfer zu sein, ein Junge, der ein Mann sein wollte, aber erst fünfzehn Jahre alt war. Und er hatte es geschafft, in Misses Andersons Beisein nicht zu weinen; doch sobald sie leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, war es mit voller Wucht über ihn hereingebrochen; in diesem Moment hatte sich in seinem Innern etwas gelöst, etwas war zerbrochen, hatte das silberne Band des Lebens für immer zerstört. Er hatte sich herumgeworfen und sein Jungengesicht im Kopfkissen vergraben und heftig losgeweint. Aber selbst dabei hatte er versucht, das beschämende Geräusch seiner verzweifelten Schluchzer zu dämpfen.
    Seitdem hatte er Frankreich ganz bewusst gemieden, hatte nie hier Urlaub gemacht und nie wissen wollen, was damals passiert und wie es genau zu dem Unfall gekommen war, wie seine Mutter und sein Vater gestorben waren. Stattdessen hatte er all die Gefühle, die Erinnerungen, die traurigen Gedanken und Überlegungen in eine schwarze Eisenschatulle gepackt und im Salzstock seiner Seele vergraben, wie die Kunstschätze einer ganzen Nation, die beim Einmarsch der Nazis versteckt wurden; und dann hatte er nur noch eines gekannt: Schule, Studium und Beruf. Aber trotzdem war es ein ständiger Kampf gewesen, sein Leben in der Spur zu halten und nicht an alldem zu zerbrechen. Doch jetzt war er hier, in der Gascogne. In der Nähe von Navarrenx. In der Nähe von Navarrenx. »Ist irgendwas?«
    Amys Lächeln war verständnisvoll, besorgt und liebevoll-mitfühlend. Und doch war es vielleicht nichts davon. Deutete er ihr Lächeln überhaupt richtig?
    »Nein, nein, alles klar.« Seine Kehle fühlte sich belegt an. »Es ist nur … mir ist gerade etwas klar geworden. Es war schon die ganze Zeit direkt vor meiner Nase.«
    »Was?«
    Von seiner eigenen Überraschung der Worte beraubt, griff er in seine Jackentasche und zog die Landkarte heraus.
    Amy beobachtete, wie er sie auf dem Tisch ausbreitete; die abgegriffene, von der Sonne gebleichte Karte mit den blauen Sternchen. Mit einem Mal ging ihm ihr Anblick durch und durch, und mühsam schluckte er die in ihm aufwallenden Emotionen hinunter.
    »Schau. Hier. Siehst du, wie ordentlich die Sternchen eingetragen sind? Wie gewissenhaft? Das kommt mir sehr

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