Cagot
auf das Papier. Irgendwo im Hintergrund konnte er das glückliche Kichern seines Sohns hören, aber es war sehr weit im Hintergrund. Simon war sehr konzentriert. Voll bei der Sache.
Zurück zum Bildschirm. Rasch gab er »Pyrenäen« und »Deformation« ein. Er überflog ein paar Seiten. Kröpfe wurden erwähnt. Psychotische Störungen. Angeborene Erkrankungen infolge von Inzest oder Jodmangel oder anderen Formen von Mangelernährung. Und dann stieß er auf etwas, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte.
Bis zum achtzehnten Jahrhundert wurden Deformationen häufig als Zeichen dafür angesehen, dass die betreffenden Personen verdammt waren oder mit dem Teufel im Bund standen.
Wie drückte es eine reißerische Website aus: »Während des großen Hexenwahns des 16. und 17. Jahrhunderts wurden Hunderte unschuldiger Menschen gefoltert, verstümmelt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt, bloß weil sie das Pech gehabt hatten, mit einem sechsten Finger oder einer dritten Brustwarze geboren worden zu sein; Menschen wurden wegen ihres angeborenen Kretinismus im wahrsten Sinn des Wortes unter Steinen zermalmt.«
Gefoltert. Zermalmt und verbrannt. Seine Gedanken kehrten zu den grauenhaften Fotos des Opfers aus Primrose Hill zurück. Die alte Frau war geknotet worden. War Knotung eine Hexenfolter?
Es dauerte vier Sekunden. Da stand es, schwarz auf weiß. Er fragte sich, ob sein Herzschlag zu hören war.
»Knotung. Bei dieser im 17. Jahrhundert gebräuchlichen Form der Folter wurde das Haar der verurteilten Hexe um einen Stock geknotet, der anschließend immer stärker gedreht wurde. Wenn dem Inquisitor irgendwann die Kraft ausging, hielt er den Kopf des Opfers fest oder spannte ihn in eine Haltevorrichtung ein, sodass kräftige Männer mit dem Drehen des Stocks fortfahren konnten. Dabei wurde dem Opfer oft die Kopfhaut abgerissen.«
Simon fragte sich, warum das die Polizisten nicht selbst herausgefunden hatten. Laut Sanderson hatte Tomasky zum Thema Knotung Recherchen angestellt. Entweder ging die Polizei der Sache nur sehr nachlässig nach - oder sie verheimlichte ihm etwas und rückte bestimmte Details des Falls nicht heraus. Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Er beugte sich nach links und machte sich eine kurze Notiz auf seinem Block. Zur Erinnerung. Dann schaute er wieder auf den Monitor. Was war mit der Frau auf Foula? Der die Haut in Streifen vom Gesicht gezogen worden war? Simon ging eine Liste von Hexenfoltern durch. Die unfassbare Brutalität verschlug ihm die Sprache. Die Spanische Spinne, Strappado, die Judaswiege, Beinschienen, Vierteilen mit Pferden, die Bootikens, die Mundbirne - die Mundbirne? -, und dann, zum Schluss, fand er es. Schneiden.
Der Grund, warum er diese Foltermethode nicht sofort gefunden hatte, war, dass sie nicht Schneiden hieß. Die Folter, der das Opfer von Foula unterzogen worden war, wurde anscheinend als »Mundritzen« bezeichnet. Und sie ließ sich ganz einfach beschreiben. Der Hexe wurden auf den Wangen und um die Lippen mit einem Messer systematisch Schnitte beigebracht, bis das Gesicht »von Schnitten überzogen war; dann wurde die Haut von den Gesichtsknochen abgezogen; manchmal wurden die Opfer von den Schmerzen dieser ungeheuer grausamen Folter ohnmächtig.«
Simon griff nach seinem Kaffee, aber er war kalt. Ungenießbar. Darauf saß er mehrere Minuten in der Stille seines Arbeitszimmers und dachte über seine jüngste Entdeckung nach. Er war unschlüssig, was sie zu bedeuten hatte.
Sie ergab keinen Sinn; nichts ergab einen Sinn. Die drei Morde hatten sich in verschiedenen Teilen des Landes ereignet, aber alle drei Opfer stammten aus den baskischen Pyrenäen; zwei von ihnen waren Hexenfoltern unterzogen worden. Es gab jedoch keinerlei Hinweise, dass diese armen Seelen tatsächlich »Hexen« gewesen waren - was immer das bedeuten mochte.
Darüber hinaus hatten die zwei gefolterten Opfer eine Deformation gehabt: Syndaktylie, eine Missbildung der Finger und Zehen, die in abgeschiedenen Bergdörfern, in denen Inzucht herrschte, relativ weitverbreitet war. Zum Beispiel in den Pyrenäen. Im Südwesten Frankreichs.
Simon kam sich vor wie ein kleines Kind, das auf einen bunten Bildschirm schaut, aber zu nah vor dem Fernseher sitzt. Er konnte zwar vage Konturen und die Farben der Pixel erkennen, aber nicht das ganze Bild.
Er musste Abstand gewinnen. Einen objektiveren Standpunkt einnehmen.
Erneut ging er die anderen Fakten durch, die ihm bisher vorlagen. Trotz der entsetzlichen
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