Cagot
sagte er gar nichts.
Doch dann lag ihm wieder die Frage auf der Zunge, die er schon mal gestellt hatte.
»Sollen wir denn nicht wenigstens jetzt zur Polizei gehen?«
»Nein.«
»Ich wusste, dass du das sagen würdest.« Ihr Lächeln war höflich.
»Klar. Aber es stimmt. Keine Polizei. Das ist etwas, was mir Jose beigebracht hat. Wenn Basken in die Sache verwickelt sind, darfst du der Polizei nirgendwo trauen, auf beiden Seiten der Grenze nicht.« Sie bedachte ihn mit einem weiteren bitteren, schmallippigen Lächeln. »Wusstest du, dass es im Baskenland fünf verschiedene Polizeibehörden gibt? Alle extrem gefährlich.
Einige sind Killer im Auftrag Spaniens. Andere sind von der ETA infiltriert… wir könnten im Nu wieder in Gefahr geraten.«
»Schon, aber jetzt sind wir doch in Frankreich.«
»Das ändert nichts an der Sache. Lass uns einfach nur … von hier verschwinden. Denk noch mal darüber nach.«
Er gab nach. Vielleicht hatte sie recht, aber überzeugt war er nicht; nach allem, was in den letzten Stunden passiert war, wollte er sie jedoch nicht mehr bedrängen.
Sie fuhren, die Sonne schien warm, sie fuhren.
David und Amy tauschten die Plätze, und Amy folgte Davids Richtungsangaben. Er hatte eine feste Vorstellung, wohin es gehen sollte: weiter nach Nordosten, tiefer in die Gascogne hinein, fort von Spanien. Zu den nächsten Ortschaften, die auf der Karte seines Großvaters eingezeichnet waren. Savin. Campan. Luz Saint Sauveur.
Er wusste deshalb so genau, wohin sie fahren mussten, weil er entschlossener denn je war, die Wahrheit über die Kirchen und die Landkarte und seinen Großvater herauszufinden. Die Gewalt und das Grauen der vergangenen Tage hatten ihn noch unbeirrbarer gemacht. Und zu seiner eigenen Überraschung gefielen ihm dieses Tempo, diese Zielstrebigkeit, diese Kompromisslosigkeit. Nach einem Jahrzehnt lähmender Apathie hatte sein Leben endlich ein erfüllendes, wenn auch schwer zu erreichendes Ziel; es war, als säße er plötzlich in einem rasend schnellen Zug, nachdem er vorher ziellos am Strand herumgeschlendert war.
Wusste Amy, wohin sie unterwegs waren? Wahrscheinlich, möglicherweise, wer konnte das schon sagen. Sie schien ihn gleichzeitig hinzuhalten und zu umgarnen. Sie war wie ein tiefes Felsenbecken, gefüllt mit trügerisch klarem blauem Wasser. Wenn sie mit ihm redete, war sie ehrlich und aufrichtig, und er glaubte, bis auf den Grund sehen zu können, bis auf den Fels. Doch wenn er hineinsprang, sah er die Wahrheit. Er konnte jederzeit ertrinken in den unausgeloteten Tiefen dieses unergründlichen kalten Blaus.
Schweigend fuhren sie immer weiter.
Allerdings befanden sie sich in einer ländlichen Gegend, und die schmalen französischen Straßen waren voller Traktoren und anderer landwirtschaftlicher Gefährte. Mehrere Stunden lang quälten sie sich durch verschlafene Kaffs und gottverlassene baskische Weiler, vorbei an Gehöften, die auf selbstgemachten Plakaten Fromage d’Iraty zum Verkauf anboten. Im hypnotischen Nachmittagssonnenschein begann David wieder, müde vor sich hin zu träumen. Doch diesmal stiegen Erinnerungen an seine Kindheit in ihm auf; an das glückstrahlende Lächeln seines Vaters, wenn er im Sommer Touch Rugby mit ihm spielte; an den markanten Geruch des Rugbyballs und sein raues Leder, an ihren großen Hund, der ausgelassen über den Rasen tollte. Glück. Und dann Trauer.
Schließlich hielten sie an einem riesigen Carrefour-Supermarkt an der Hauptstraße nach Mauleon und aßen in dem sterilen Lokal einen einsamen Croque Monsieur mit grünem Salat; dann kauften sie Kleider und Zahnpasta und sahen sich über den Supermarktgang hinweg wortlos an. Sie waren auf der Flucht, mussten sich verstecken. Und sie konnten nicht einmal der Polizei trauen?
Dann machten sie sich auf den Weg zu dem kleinen Städtchen Mauleon-Licharre, das, umgeben von den grünen Hügeln der Pyrenäen, an einem idyllischen Fluss lag.
David fuhr direkt in das mittelalterliche Zentrum der Stadt und parkte. Nach der langen, anstrengenden Autofahrt und den schrecklichen Erlebnissen in der Hexenhöhle tat ihm alles weh. In der Stadt war kaum etwas los, und nur einige wenige Paare promenierten in der Dämmerung über die Kopfsteinpflasterstraßen. Amy und David schlossen sich ihnen an. Sie gingen zum Fluss und starrten von der Brücke aufs Wasser hinab. Schwalben kreisten in der sanften Frühherbstdämmerung. David gähnte.
»Mann, bin ich müde.«
»Ich auch.«
Sie ließen das
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