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Cagot

Cagot

Titel: Cagot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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sich schon wieder einigermaßen gefangen … Geh drauf! Drauf auf den Mann!«, schrie der Psychiater.
    Er schüttelte enttäuscht den Kopf, als der gegnerische Stürmer dem erbärmlichen Tackling auswich und mühelos ein Tor erzielte. Das Tor war praktisch geschenkt, weil der Torwart mit geschlossenen Augen auf dem Boden saß.
    Simon konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verkneifen. Aber wenn er nicht lachte, müsste er vielleicht weinen. Das dort drüben war sein Bruder, der pummelige, etwas über vierzigjährige Schizophrene, der murmelnd an der Eckfahne stand. Der Messerstecher. Am anderen Ende des Spielfelds stand ein Wachmann herum. Simon vermutete, dass er bewaffnet war - St Hilary war eine Hochsicherheitsanstalt.
    Der Schiedsrichter pfiff ab.
    »Drei zu zwei!«, sagte Fanthorpe aufgeregt. »Super, gut. Ich gehe Tim holen.«
    Am liebsten hätte sich Simon auf der Stelle wieder verdrückt. Er hatte seine Pflicht getan und Tim - wenn auch nur aus der Ferne - gesehen. Er wusste, sein Bruder war noch am Leben, und deshalb konnte er eigentlich wieder zu seinem Sohn, dem Au-pair-Mädchen und seiner Frau zurückkehren und so tun, als ob Tim gar nicht existierte, als ob nicht die ganze Familie denselben verrückten Zug in ihren Genen hätte und als ob er als Vater nicht mindestens einmal am Tag seinen Sohn kurz musterte und sich fragte: Bist du? Wirst du? Was hast du geerbt? »Simon?«
    Tim schien hocherfreut, seinen Bruder zu sehen; Simon umarmte ihn. Tims massige weiße Oberschenkel sahen in der blauen Kunstfaserfußballhose seltsam verletzlich aus.
    »Klasse siehst du aus, Timothy. Wie geht’s dir?«
    »Oh, gut, gut, gut, super Spiel, findest du nicht?!« Tim grinste begeistert.
    Simon betrachtete das Gesicht seines Bruders; seine Haare waren grauer, seine Backen noch dicker geworden, und trotzdem schien Tim nie wirklich zu altern. Hielt einen Wahnsinn jung? Oder lag es an seinem Bild von Tim, das sich in seinem Kopf eingenistet hatte, das Bild, wie Tim mit einer Machete in der Hand auf ihre Mutter einhackte. Das viele Blut. Literweise Blut.
    »Du hast richtig klasse gespielt«, sagte Simon und versuchte, seinen älteren Bruder nicht zu hassen. Es war nicht seine Schuld.
    »O ja. Sehr gute Sportmöglichkeiten. Bist du lange hier, es gibt ein … ja. O ja, auf jeden Fall. Ja.«
    Beide gaben sich redlich Mühe, ein Gespräch zu führen, aber Sätze überforderten Tim an allen Ecken und Enden, und binnen weniger Minuten war die Unterhaltung zum Erliegen gekommen. Tims Aufmerksamkeit hatte sich anderen Dingen zugewandt, er war in andere Sphären abgedriftet. Simon kannte diesen abwesenden und gequälten Ausdruck seines Bruders nur zu gut. Tim hörte dann die Stimmen. Auf seinem Gesicht zeichneten sich kleine Erregungsstrudel, Tics und Zuckungen ab. Tim versuchte, weiter zu lächeln, aber er hörte Stimmen, die ihm diese unerklärlichen Anweisungen erteilten.
    In Simon wallte Mitleid auf, Mitleid und Hass und Liebe, alles gleichzeitig. Die Traurigkeit schnürte ihm die Luft ab. Er wollte gehen. Tim würde sein ganzes Leben hier bleiben.
    »Also dann, Tim. Ich muss wieder los.«
    Tim bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Nicht lang also? Nicht allzu lang geblieben, wir müssen fleißig sein. Immer fleißig. Ja, fleißig bis …«
    »Tim?«
    »Ich bin auch fleißig, viel zu tun. Hervorragend … im System.«
    »Hör zu, Tim. Dad lässt dich grüßen.«
    Über Tims Augen legte sich ein trauriger Schleier, wie er jetzt in der milden Herbstsonne auf dem Gelände der Irrenanstalt stand.
    Würde sein Bruder - bitte nicht! - zu weinen beginnen?
    »Simon…?«
    »Tim.«
    »Eher, weißt du, zweifellos, Mutter und Vater in Südafrika. Simon. Ich … ich … ich habe was gemacht. Für dich.«
    »Wie?«
    Bill Fanthorpe hatte sich ihnen genähert und beobachtete sie aus einigen Metern Entfernung.
    Tim fasste in die Tasche seiner Fußballhose. Und zog einen kleinen geschnitzten Gegenstand aus Holz heraus.
    »Gusty. Immer viel Spaß mit ihm. Erinnerst du dich an Gusty, erinnerst du dich? Ich habe einen Hund für dich gemacht, hoffentlich gefällt er dir.«
    Der jüngere Bruder betrachtete die primitive kleine Holzfigur. Jetzt verstand er. Als sie Kinder waren, hatten sie einen Springer Spaniel gehabt, Augustus - »Gusty«. Simon und Tim hatten Stunden und Tage, ganze Ferien damit verbracht, mit Gusty zu spielen und durch Hampstead Heath zu streifen. Über sonnige Strände zu tollen.
    Er war ein Symbol glücklicherer Zeiten, vor

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