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Cagot

Cagot

Titel: Cagot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Knox
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hier? Wo wurden sie ermordet? Wieso kannten Sie sie?«
    Die Miene der alten Frau war sehr ernst. »Ihr Vater… kam nach Gurs. Und ich erkannte ihn sofort.«
    »Wie das?«
    »Weil er wie Ihr Großvater aussah. Non? Oder etwa nicht?«
    »Doch«, sagte David. »Doch, es stimmt. Dunkles Haar, breite Schultern. Groß…«
    »Ich habe sofort Ihren Großvater in Ihrem Vater gesehen, genau so, wie ich ihn in Ihren Zügen entdeckt habe. Sie sehen sich alle drei sehr ähnlich … und wissen Sie, was ich Ihrem Vater gesagt habe? Ich habe ihm gesagt: >Monsieur Eduardo, ich war mit Ihrem Vater, Sergio Martinez, im Lager …<«
    »Mit meinem Großvater.«
    »Ja.«
    Ein kühler Wind kam auf. Er fuhr in die Pappeln, die den Rand des Lagers bewachten; als beunruhigte sie der unerwartete Luftzug, gerieten ihre Zweige in heftigen Aufruhr.
    »Ihrem Vater war das vollkommen neu«, fuhr die alte Frau fort. »Er wusste nichts über Ihre Familiengeschichte, und das war auch der Grund, weshalb er hierhergekommen war: um die Wahrheit über seine Vergangenheit herauszufinden.« Ihre Augen waren halb geschlossen. »Er wusste nicht, dass Ihr Großvater Baske war und dass er im Krieg in einem Lager war. Also habe ich es ihm erzählt. Und, David, nachdem Ihr Vater und Ihre Mutter das herausgefunden hatten, blieben sie hier. Zwei Wochen. Sie stellten weitere Fragen … Ihr Vater Eduardo ging mit Ihrer Maman immer in die Brasserie von Gurs. Ich glaube, mein Mann hat ihm viel erzählt, über das Lager und auch über andere Leute.« Sie seufzte ruhig. »Ich bin schon seit zehn Jahren Witwe.«
    »Und was haben sie dann gemacht? Meine Eltern waren einen ganzen Monat in Frankreich.«
    »Ja … danach fuhr Ihr Vater etwa eine Woche - vielleicht auch etwas länger - in die Provence und möglicherweise auch noch woandershin. Warum, weiß ich nicht. Aber … als er mit Ihrer Mutter zurückkam, hatte er noch mehr Fragen. Weiter gehende Fragen. Über das Lager und die Basken und die Cagots. Über Eugen Fischer. Über alles Mögliche. Auch über einen bestimmten Lagerinsassen, einen Verräter.«
    »Wer war das?«
    »An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber vielleicht fällt er mir wieder ein. Später. Das sind schreckliche Erinnerungen für mich, für jeden Cagot, überhaupt für jeden.«
    David spürte, dass jetzt der Augenblick gekommen war, die entscheidende, die unvermeidliche Frage zu stellen. Er kam sich vor wie auf einer stillgelegten Bahnstrecke, die plötzlich wieder in Betrieb genommen worden war und auf der jetzt ein Zug auf ihn zuraste, mit der schrecklichen Wahrheit in den rostigen braunen Waggons.
    »Wo wurden sie umgebracht? Meine Mutter und mein Vater?«
    Madame Bentayou deutete auf die Straße, die am Rand des Lagers entlangführte. Dahinter war ein Feld mit verwelkten Sonnenblumen, die aussahen wie abgestorbene Bäume aus verkohltem, zerfetztem Papier.
    »Dort drüben. In ihrem Auto. Es gab eine gewaltige Explosion. Jemand hat ihr Auto in die Luft gesprengt… zumindest dachten das die meisten in Gurs und Navarrenx. Die Polizei ist der Sache nie ernsthaft nachgegangen. Genauso, wie sie auch nichts unternommen haben, als vor ein paar Wochen … mein Sohn und seine Frau ermordet wurden.« Madame Bentayous Stimme zitterte. »Ich frage mich schon, ob hinter all diesen Morden nicht vielleicht dieselben Leute stecken. Ich glaube nämlich, bei beiden Gelegenheiten einen bestimmten Mann im Ort gesehen zu haben, denselben Mann; er war auffallend groß. Aber Sie müssen entschuldigen, wahrscheinlich ist alles nur dummes Zeug, was ich da rede. Ich bin ja verrückt. Meine Enkelin glaubt jedenfalls, dass ich langsam den Verstand verliere. Aber ich gehe jetzt. Ich möchte erst mal allein sein. Wenn Sie wollen, können wir später noch einmal über alles reden.«
    Müde stand Madame Bentayou auf. Sie kam ganz nah auf David zu, drückte mit ihren kalten kleinen Händen seine Hand und sah ihm in die Augen. Dann drehte sie sich um und ging durch den Wald zu ihrem Bungalow zurück.
    David sah ihr lange hinterher. Auch er hatte das Bedürfnis - das starke Bedürfnis -, allein zu sein. Er ging zu der Straße, auf die Madame Bentayou gedeutet hatte. Und als er auf den Asphalt blickte, fragte er sich, entgegen jeder Vernunft, ob die Reifenspuren noch zu sehen wären. Oder sonst irgendwelche Hinweise auf die Explosion. Fünfzehn Jahre danach. Winzige Quarzpartikel der Windschutzscheibe, immer noch in den Vertiefungen der rauen Straßenoberfläche

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