Calendar Girl
gegenüber striktes Schweigen bewahrte. Caro, die ihre kleine Schwester über alles liebte, hatte ihm gehorcht.
»Mit Dreizehn ist sie das erste Mal abgehauen«, erzählte Elli, der die Erinnerung sichtlich nahe ging. »Sie war bis dahin eine gute Schülerin gewesen, aber seit Jason sie quälte, waren ihre Schulnoten in den Keller gegangen und sie hatte angefangen, sich vor uns abzuschotten. Babbo hat sie immer wieder zurückgeholt, er hatte einen unfehlbaren Riecher, wo er nach ihr suchen musste, aber sie ist jedes Mal nach ein paar Wochen wieder verschwunden.«
Fokko atmete tief durch. »Wo war sie?«
»Irgendwo.« Elli zuckte die Achseln, nicht gleichgültig, sondern unglücklich. »Überall, wo es jemanden gab, der sie bei sich wohnen ließ. Auf der Straße, eine Zeitlang zumindest. Sie sah aus wie ein Punk, sie benahm sich wie eine Drogensüchtige, wir waren vollkommen ratlos.«
»Sie war minderjährig«, sagte Fokko.
»Ja, aber was hätten meine Eltern machen sollen? Sie wollte nicht mit ihnen reden. Sie wollte nichts mehr mit uns zu tun haben, zumindest sah es so aus.« Elli zerdrückte die Stofftasche, die sie immer noch in der Hand hielt. Sie sah darauf nieder, schüttelte den Kopf und legte sie beiseite. Mit Vierzehn ist sie bei Jason eingezogen. Und dort blieb sie. Zwei Jahre lang.«
»Was?«, rief Fokko. »Und deine Eltern haben das zugelassen?«
»Sie wussten es nicht«, wisperte Elli und senkte unglücklich den Blick. »Sie haben es erst herausgefunden, als Caro ihn anzeigte und das Ganze ans Licht kam. All die Jahre ...«
Fokko saß die hilflose Wut wie Säure in der Kehle. Er ballte die Fäuste, wünschte sich, er hätte diesem Scheißkerl die Eier abgerissen und in den Mund gestopft.
Elli, die sein Mienenspiel richtig deutete, wozu sicherlich nicht viel Einfühlungsvermögen gehörte, nahm ohne Umstände seine Hand und hielt sie fest. »Sie hat es für mich getan«, sagte sie und ihre Stimme war kalt wie ein Gletscher. »Glaube mir, ich wäre die erste in der Reihe und wenn ich mit ihm fertig wäre, gäbe es für dich nichts mehr zu tun. Aber nun wird er vor Gericht gestellt und dieses Mal kommt er nicht mehr frei.«
Nein, das würde er nicht. Fokko hatte schon gehört, dass der »Troll«, wie Caro ihn nannte, den Jahreswechsel wahrscheinlich nicht mehr überleben würde. Er lag im Gefängniskrankenhaus, schwer bewacht, aber der Hauptkommissar, mit dem Elli liiert war, hatte ihm beiläufig erzählt, dass Jason Benkow zu geschwächt war, um noch eine Gefahr darzustellen.
»Ich wünschte, er würde gesund«, murmelte Fokko erbittert. »Es soll doch Spontanheilungen geben, sogar bei Krebs im Endstadium.«
Elli grinste humorlos. »Er wird sterben und ich denke, das ist auch das, was er sich wünscht.« Sie reckte sich und gähnte. »Kann ich noch was für dich tun? Du hast jeden Wunsch frei.«
Er betrachtete sie mit einer Zuneigung, die ihn selbst überraschte. Elli war ihrer Schwester ganz und gar nicht ähnlich, und doch glichen die beiden sich in vielem. Eine merkwürdige Feststellung. »Danke«, sagte er und legte sich bequemer hin. »Ich bin müde, ich werde jetzt etwas schlafen.«
Fokko schlief nicht. Er lag im Halbdunkel des Zimmers und dachte nach. Jason hatte nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis nicht lange gezögert, nach Düsseldorf zurückzukehren. Er hatte über seine Schwester eine Stelle gefunden, bei einem Mann, der bereit war, seiner Haushälterin einen Gefallen zu tun und einem reuigen ehemaligen Strafgefangenen eine Gelegenheit zur Resozialisierung zu bieten. Als Botenfahrer für Philipps Werbeagentur hatte er angefangen und da er sich als intelligent, höflich und angenehm erwies, hatte Philipp ihn schnell auch zu seinem persönlichen Fahrer gemacht. Und spätestens ab da nahm das Unheil seinen Lauf.
Fokko suchte nach einer Position, in der seine Wunde weniger schmerzte. Wenn er daran dachte, wie die Mädchen, seine Modelle, gestorben waren, wurde ihm übel. Gudrun hatte es gerettet, dass sie nicht allein lebte, aber wer weiß, früher oder später hätte er auch einen Weg gefunden, sie zu ermorden. Und Caro. Caro ...
Die Tür ging auf und leise Schritte kamen über das Linoleum auf ihn zu. Das war keine Schwester, die machten immer die Neonlampen an der Decke an, wenn sie hereinkamen. Er wandte den Kopf und sah eine kleine Gestalt im hellen Morgenmantel an seinem Bett stehen. »Fo«, sagte Caro. »Ich hatte Sehnsucht.«
Er war einen Augenblick lang sprachlos.
Weitere Kostenlose Bücher