Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
und unterhielt sich angeregt mit Vizepräsident Butler. Mit den langen Frackschößen und den glänzenden Gamaschen ähnelten sie einem Paar riesiger, ernsthafter Käfer.
Abigail hielt nun nach ihrer Schwester Ausschau, doch Helena war nirgends zu entdecken. Wahrscheinlich beeindruckte sie irgendwo ihre Umgebung mit ihrer Schönheit und ihrem empörenden Benehmen, denn auf beides verstand sie sich bestens. Jedenfalls war es ganz gut, dass Helena sich im Moment rar machte; bei einer Hochzeit gehörte es sich nicht, die Braut auszustechen.
Wie üblich, blieb es Abigails Sache, das zu tun, was richtig war und was erwartet wurde, wobei es nicht darauf ankam, dass sie in beidem nicht besonders gut war. Dass man die beste Person für eine Aufgabe war, zählte weniger, als die Aufgabe tatsächlich auszuführen.
Da Helena drei Jahre älter war als die Schwester, sollte sie eigentlich diejenige sein, welche die pflichtbewusste Tochter spielte, wie Abigail fand. Doch dazu wäre es natürlich nötig gewesen, dass Helena sich ein wenig um Schicklichkeit kümmerte.
Niemandem lag mehr daran als Abigail, und die hielt sich einen ernsten, stummen Vortrag: Ich bin jetzt eine erwachsene Frau, sagte sie sich, und ich muss meinen lähmenden Widerwillen ablegen, in den Ballsaal zurückkehren und meinen Fehler wieder gutmachen.
Als sie indes an die Türklinke fasste, sah sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung an der Ecke des Innenhofs. Ein von Steinbänken gesäumter Kiespfad schlängelte sich durch den dunklen Garten beim Weißen Haus. Und auf einer dieser Bänke, umgeben von spätblühenden Spinnenlilien und Herbstkrokussen, saß ein eng umschlungenes Paar.
Abigail stockte der Atem. Die beiden auf der Bank merkten nichts von ihrer Anwesenheit; in einem leidenschaftlichen Kuss vereint, umarmten sie einander. Ein unerklärlicher Impuls zog Abigail über den Innenhof, wo sie sich in den Schatten verbarg, um besser sehen zu können.
Um Himmels willen, der Mann hatte seine Hand unter den Rock der Dame geschoben! Ihr Bein lag über seinem Schoß und gab den Blick auf ein dunkles Strumpfband frei. Abigails Faszination wuchs, als die Frau aufstöhnend den Kopf zurückwarf und ihr Dekolleté entblößte. Ihre Brüste waren so hell und glatt wie zwei Halbmonde. Der Mann küsste das schattige Tal zwischen ihnen, und Abigail fühlte in sich eine schreckliche Hitze aufsteigen, für die sie keinen Namen hatte.
Sie sank gegen ein Geländer und stellte sich vor, wie es wohl wäre, wenn ein Mann sie auf diese Weise küsste und sie so umarmte, als wollte er sie nie wieder freigeben.
„Oh ..." Die Frau stöhnte erneut und voller Leidenschaft. „Ach Jamie, Jamie ...“ Sie beugte sich noch weiter zurück und drehte sich dabei ein wenig, so dass der schwache Mondschein ihr Gesicht umspielte.
Gebannt von dieser Szene, rückte Abigail noch etwas näher. Der Zweig eines Liliengewächses strich ihr übers Gesicht. Sie schob ihn zur Seite, um die Frau besser sehen zu können, die nun mit zurückgelegtem Kopf, geschlossenen Augen und in ihrer Ekstase halb geöffnetem Mund in seinen Armen lag. Sie hatte zarte Hände, ein helles, betörendes Lachen und ein überaus bekanntes Gesicht. Als Abigail sie erkannte, blieb ihr fast die Luft weg. Grundgütiger Himmel, das war ja Mrs. Caroline Fortenay, die Schwester des Präsidenten - seine verwitwete Schwester!
Abigail fühlte ein unheilvolles Kribbeln in der Nase. Oh nein! dachte sie, hielt sich das Taschentuch vors Gesicht und entfernte sich vorsichtig von der Blumenhecke. Trotz aller Bemühungen gelang es ihr nicht, das nächste Niesen zurückzuhalten, das nun geradezu wie ein Vulkan aus ihr hervorbrach.
Das Paar auf der Bank fuhr auseinander. Der Mann äußerte ein Wort, das Abigail noch nie gehört hatte, obwohl sie allein bei dem wütenden Klang errötete.
Rasch stieß sie sich von der Wand ab, überquerte den Innenhof und lief zum Eingang zurück. Das Taschentuch flog ihr aus der Hand und schwebte zu Boden. Sie kümmerte sich nicht weiter darum, sondern schlüpfte schnell in den Ballsaal.
In der Hoffnung, niemand möge ihr hastiges Eintreten gesehen haben, presste sie sich gegen die Wand, schloss die Augen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Unterdessen ging das Fest weiter, es wurde gelacht und geredet, und kein Mensch schien ihre Anwesenheit zu bemerken. Abigail seufzte tief und erleichtert auf. Wer hätte aber auch gedacht, dass ein Niesanfall sie in solche Schwierigkeiten bringen
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