Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
KAPITEL
H inter der behandschuhten Hand verbarg Abigail ein Gähnen. Gewöhnlich hatten ihre nächtlichen Ausflüge keine solchen Auswirkungen, doch vergangene Nacht hatte sie sich viel länger als üblich auf dem Dach aufgehalten. Bevor sie sich für die Eröffnungssitzung angekleidet hatte, war ihr nur wenig Zeit zum Schlafen geblieben.
Über ihre Hand hinweg warf sie einen Blick zu ihrem Vater, der ihr gegenüber in dem Landauer mit dem Leinenverdeck saß.
„Spät geworden gestern Nacht?“ fragte er. Das klang zwar recht freundlich, doch da Abigail ihn allzu gut kannte, hörte sie seiner Stimme jetzt auch den leichten Tadel an.
Als sie daran dachte, wie sie von dem halb nackten James Calhoun angegriffen worden war, errötete sie. „Ich habe einen überaus beeindruckenden Meteoritenschauer beobachtet.“
„Einen Meteoritenschauer!“ Helena, die aussah wie eine frisch geschnittene Rose aus dem Gewächshaus eines Meistergärtners, nahm Abigails Hand. „Wie herrlich, Liebling. Ich schelte dich nicht, weil du wach geblieben bist, um dir dieses Wunder anzusehen.“
Abigail drückte ihrer Schwester die Hand. Wahrscheinlich hatte Helena keine Ahnung, was ein Meteoritenschauer war, doch ihre Loyalität war wirklich rührend.
„Ich hoffe nur, du schaffst es, während der Eröffnungssitzung wach zu bleiben“, meinte ihr Vater.
„Aber selbstverständlich“, murmelte Abigail. „Ich habe jedes Jahr daran teilgenommen, ohne jemals während der Sitzung einzuschlafen.“
Helena lachte. „Erinnerst du dich? Als du noch ganz klein warst, sagtest du zu Präsident Grant, er rieche nach Gingerale!“
Abigail erinnerte sich durchaus. Sie hatte es weder damals noch heute komisch gefunden, und ihr Vater hatte ebenfalls nicht darüber lachen können. Er verschränkte seine Hände über dem Knauf seines Spazierstocks und starrte geradeaus.
Die Hickory- und Tulpenbäume, welche die Pennsylvania Avenue säumten, schwankten in der frischen Brise. Der Landauer rollte an den schmiedeeisernen Toren vorbei, hinter denen die ausländischen Vertretungen und Bundesbüros lagen. Männer in schwarzen Anzügen gingen eilig ihren unterschiedlichen Geschäften nach, und Dienstmädchen trugen Brot- oder Wäschekörbe. Dunkelhäutige Diener und Kutscher brüllten und pfiffen auf der breiten, geschäftigen Straße.
„Und weißt du noch, als du dreizehn warst und diese fürchterliche Frau aufstand und sich an den Kongress wandte?“ fuhr Helena fort. „Sie behauptete, sie kandidiere für das Präsidentenamt.“ „Victoria Woodhull“, erinnerte Abigail ihre Schwester. „Und ich fand sie ganz und gar nicht fürchterlich.“
„Deinen Standpunkt hast du ja überdeutlich klargemacht, als du dieses Transparent an der Besuchergalerie aufgehängt hast“, bemerkte ihr Vater.
Abigail erinnerte sich an jeden Moment dieses entsetzlichen Tages und wusste noch genau, wie eifrig sie gewesen war. Und voller Idealismus. Sie hatte gedacht, sie tue das Richtige. Wenn Frauen das Wahlrecht erhielten, hatte sie gemeint, dann würden sie alle für ihren Vater stimmen. Alle Frauen, die sie kannte, fanden ihn nämlich wunderbar. Er würde dann sehr stolz auf seine Tochter sein, weil sie ihm mehr Stimmen eingebracht hatte, und dagegen konnte er doch nichts haben.
Sie war die ganze Nacht wach geblieben, um an dem großen Transparent zu arbeiten, und am nächsten Morgen verstaute sie es in einer riesigen Reisetasche und schmuggelte es in die Galerie über den Plätzen der Senatoren. Heimlich brachte sie es hoch oben an, so dass jedes Mitglied des Senats so wie das Pressecorps und die Ad ministration ihren Slogan lesen konnte: „Wahlrecht für Frauen - sofort!“
Das Problem war, dass sie die Reaktion ihres Vaters falsch eingeschätzt hatte. Nachdem jedermann verblüfft ihr Transparent angestarrt hatte, durchbrach ein rivalisierender Senator von der Opposition die Stille. „Sagen Sie mal, Mr. Cabot, ist das da oben nicht Ihre Tochter?“
Noch im gleichen Jahr wurde sie auf Miss Blandings Lyzeum geschickt. Es besaß den Ruf, die beste Schule für die jungen Damen der Nation zu sein, und war eine festungsähnliche Institution am Ufer des Potomac unweit des Mount Vernon. Der Senator hatte gehofft, dass man Abigail dort Disziplin und weibliche Zurückhaltung beibringen würde. Stattdessen jedoch hatte er sie unabsichtlich an einen Ort geschickt, an dem ihre lebenslange Leidenschaft geweckt und genährt werden sollte.
Auf Miss Blandings Lyzeum nahm sie
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