Calhoun Chronicles 03 - Die Schoene Tochter Des Senators
an einer Vorlesung teil, die eine Gastprofessorin hielt. Professor Mitchell war eine Kennerin des Nachthimmels, die berühmteste Astronomin der Welt und die erste weibliche Professorin für Astronomie. Sie war die Erste, die in die Akademie der Künste und Wissenschaften aufgenommen wurde, die Erste, die mittels eines Teleskops einen Kometen entdeckte. Sie hatte ihre Vorlesung mit einem Satz begonnen, den Abigail nie vergessen sollte: „In der Wissenschaft ist vor allem unsere Vorstellungskraft gefordert“, hatte Professor Mitchell gesagt. „Man muss alles hinterfragen.“
Abigail hatte gefühlt, wie sich der Vorhang vor einem großen Rätsel hob. Hier war endlich eine Frau, die verstand, weshalb sie, Abigail, ihre Kinderjahre mit der Sternguckerei verbracht hatte. Von diesem Moment an hatte sie ein Ziel im Leben, auch wenn es sich nicht auf die Erde beschränkte. Ihr Ziel befand sich vielmehr unzählige Lichtjahre entfernt im weiten Weltraum, wo sich das Rätsel des großen Universums verbarg und wo die Sterne geboren wurden.
Andere Lehrer hatten sie neugierig gemacht, sie angestachelt und inspiriert, doch nur diese Professorin hatte ihr Leben verändert und ihr gezeigt, dass sie mehr vermochte, als sie gedacht hatte.
Nach jener Vorlesung schrieb Abigail an Professor Mitchell und erhielt eine sehr kluge und ermutigende Antwort auf ihren Brief. Die beiden schrieben einander seit damals regelmäßig, und wahrscheinlich hatte Abigail hier auch ihre Fertigkeit im Schreiben entdeckt.
Bei diesem Gedanken verdüsterte sich ihre Stimmung. Ihr letzter Brief hatte ja dank des fürchterlichen Mr. Calhoun eine Katastrophe ausgelöst. Ich hätte mich mit dem Schreiben besser auf die Professorin beschränken sollen, dachte sie, während die Kutsche zu dem eleganten Osteingang des Kapitols rollte. Kirsch- und Hartriegelbäume säumten den gepflegten Rasen, und man hatte das Herbstlaub ordentlich von den Straßen und Wegen gefegt.
Zwei dunkelhäutige Diener begleiteten die Ankömmlinge, während die Kutsche sich in die lange Schlange der anderen Wagen einreihte; Droschken und Mietwagen, offene Fahrzeuge und verzierte Kutschen standen entlang der Straße. Einige Senatoren, wie Pishey Harris von Philadelphia, lebten wie ungekrönte Könige und protzten mit ihrem Reichtum. Andere wiederum waren einfache Landbewohner, Leute aus Minnesota oder Kalifornien, die sich bescheiden gaben.
Die Luft schien vor Spannung und hoffnungsvoller Erwartung beinahe zu knistern. Kongressabgeordnete und Senatoren, deren Mannschaften und Unterstützer spürten diese Stimmung, die sie alle vereinte, und jedermann war voller Eifer darauf bedacht, sich an die Arbeit zu machen. Die jüngeren Abgeordneten mit ihrem idealistischen Schwung und die älteren mit der gewohnten Autorität bildeten eine Regierung, die Macht und Kraft ausstrahlte.
Beim Aussteigen wäre Abigail beinahe gestolpert, doch ein aufmerksamer Diener hielt sie noch rechtzeitig fest. Sie warf einen Blick auf ihren Vater und sah, dass er sie mit gequälter Miene beobachtete. Verstört zuckte sie zusammen. Der Tag hatte noch kaum begonnen, und schon war es ihr wieder gelungen, die Missbilligung ihres Vaters zu erregen. Er sagte kein Wort, sondern drehte sich zu seinen Kollegen um.
Männer waren hier weit in der Überzahl, denn nur die reichsten Abgeordneten und die der Aristokratie brachten ihre Angehörigen mit ins Kapitol. Deshalb bestand der Senator auch immer darauf, dass Abigail und Helena beim Eröffnungstag anwesend waren.
Über dem allgemeinen Stimmengewirr, dem Peitschenknallen und den Pfiffen der Kutscher hörte man auf einmal den Hufschlag eines Pferdes, das sich in schnellem Galopp näherte. Die Leute drehten sich neugierig um, und einige von ihnen sprangen eilig aus dem Weg. Wie alle anderen auch starrte Abigail offenen Mundes den eintreffenden Kongressabgeordneten an.
Der Mann ritt nicht irgendein Pferd, sondern ein schnelles, muskulöses Tier mit glänzendem rotbraunem Fell, langer schwarzer Mähne und dem edlen Kopf eines Arabers. Es schnaubte, warf den prächtigen Kopf hoch und scharrte mit den Vorderhufen; sein Reiter vermochte es kaum zu bändigen. Die Kraft und Energie des Hengstes zwang die wartenden Diener und Knechte, gegen die gemeißelte Mauer zurückzuweichen, die den Rasen umgab.
Der Reiter trug einen Anzug, der extravagant, aber auch modisch wirkte, so als hätte ein Cowboy sich in die Werkstatt eines Schneiders auf der Savile Row verirrt. Gekonnt saß der
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