Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
gekommen. Nachdem sie im Kircheneingang geschlafen hatte, waren die Schrecken der Nacht verflogen und sie entschied sich, einen Bus zu nehmen, der sie weit weg an einen Ort bringen sollte, an dem keiner nach ihr suchte. Erst als sie in der Tür eines Busses stand und sah, wie der Schaffner Fahrscheine abknipste und ein bis zwei Pence für eine Fahrt verlangte, begriff sie, dass ihre fünf Pfund ein Problem darstellten. Sie konnte den Schein nicht einlösen. Just als der Bus anfuhr, sprang sie ab und stürzte in den Rinnstein. Mehrere Leute kamen, um ihr auf die Beine zu helfen, doch sie hatte so viel Angst, dass sie sie zur Seite stieß, ihr Gesicht mit den Händen verbarg und losrannte.
Mary versteckte sich den ganzen Tag über. Das erschien mir irrational. Ich fragte sie: »Warum bist du nicht zur Polizei gegangen und hast um Schutz gebeten?«
Sie gab mir eine interessante Antwort.
»Ich konnte nicht. Ich war ja eine Diebin. Sie hätten mich eingesperrt oder zurück zum Café gebracht, damit ich Onkel das Geld wiedergebe.«
Ihre Furcht vor Onkel ließ sich fast mit Händen greifen und so verbrachte sie den Tag damit, umherzuziehen und sich vor den Passanten zu verstecken. Sie muss sich von Bow aus südwärts, in Richtung des Flusses gehalten haben, denn es war auf der East India Dock Road, dass ihr schließlich die Idee kam, jemanden zu fragen, nämlich eine Frau, die nicht so aussah, als hätte sie etwas mit Prostitution zu tun, ob sie fünf Pfund wechseln könne. Als ich an diesem Abend aus dem Bus stieg, war sie auf mich zugekommen und ich hatte sie mit mir ins Nonnatus House genommen, wo sie seit ihrem Abschied von Dublin die erste ordentliche Mahlzeit bekommen und die erste Nacht in einer warmen, sicheren Umgebung verbracht hatte.
Schwester Julienne arrangierte, dass Mary im Church House am Wellclose Square unterkam. Pfarrer Joe Williamson hatte das Haus als Zuflucht für Prostituierte eingerichtet und beschäftigte Ehrenamtliche als Personal.
Pfarrer Joe war ein Heiliger. Heilige gibt es in allen Formen und Größen – einen Schein müssen sie nicht unbedingt tragen. Pfarrer Joe war im Elendsviertel von Poplar zur Welt gekommen und dort in den 1890er-Jahren aufgewachsen. Er war ein ruppiges, zähes Kind des East Ends, das auf der Straße spielte, grob und vorlaut, und doch hatte er nach seiner Kindheit die Vision, dass Gott ihn zum Priester berufen hatte. Er bewältigte alle Hürden: seinen Mangel an ordentlicher Schulbildung, seinen breiten Cockneyakzent, den niemand verstand, die Unfähigkeit, sich auszudrücken, und die Vorurteile gegenüber der Schicht, aus der er stammte. In den 1920er-Jahren wurde er zum Priester geweiht und viele Jahre später, in denen er als Gemeindepriester in Norfolk gearbeitet hatte, kehrte er zurück ins East End: in die Gemeinde von St Paul’s in Stepney, mitten im Rotlichtviertel. Er sah mit eigenen Augen, welch elendes Leben die Mädchen dort führten. Von da an widmete er sein Leben der Hilfe für Prostituierte, die ihren Verhältnissen entfliehen wollten. Den Wellclose Trust gibt es im einundzwanzigsten Jahrhundert immer noch und er hat weiterhin die gleiche Aufgabe.
Im Church House durfte Mary baden und sie bekam saubere warme Kleider und ein gutes Essen. Sie war dort eines von sieben Mädchen, die, mit unterschiedlichem Erfolg, versuchten, aus dem Gewerbe der Prostitution auszusteigen. Mary ging nicht nach draußen, davor hatte sie zu viel Angst, doch allmählich kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück und ihre irischen Augen begannen wieder zu leuchten.
Ich besuchte sie mehrmals während dieser ruhigen Phase ihres Lebens, weil sie sich, glaube ich, darüber freute, aber auch, weil ich mehr über Prostituierte herausfinden wollte. Ich glaube, dass sie für kurze Zeit recht glücklich war, doch es konnte nicht von Dauer sein. Zum einen machte ihre Schwangerschaft Fortschritte und sie konnte zwar im Church House zur Vorsorge untersucht werden, aber man war dort nicht dafür eingerichtet, eine Mutter mit Kind zu versorgen. Noch wichtiger war jedoch die Tatsache, dass das Church House in gefährlicher Nähe zur Cable Street und dem Full Moon Café lag. Solange Mary das Haus nicht verließ, war sie nicht in Gefahr, doch sicher wollte sie nach einiger Zeit auch einmal wieder nach draußen gehen – das Church House war schließlich kein Gefängnis. Wenn sie das tat, so mutmaßte Pfarrer Joe, lief sie Gefahr, erkannt zu werden, und Marys Angst, entführt oder gar ermordet
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