Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Tagesraum, einem Schlafsaal und einem Innenhof. Im Schlafsaal mussten sie die Zeit zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens zubringen, es gab eine Rinne zur Mitte des Bodens, in die man sich nachts erleichtern konnte. Der Tagesraum war auch ihr Speisesaal, wo alle auf langen Bänken beim Essen saßen. Alle Fenster waren über Augenhöhe angebracht, sodass niemand hinausschauen konnte, und die Fensterbänke waren schräg nach innen geneigt, sodass niemand nach oben klettern oder darauf sitzen konnte. Der Hof war von Mauern umschlossen, mit Kies bedeckt und weder Tür noch Tor führten nach draußen. Es war letztlich ein Gefängnis.
Elend und Monotonie ließen die Zeit verschwimmen, aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate. Die Frauen waren den ganzen Tag über mit harter Arbeit beschäftigt: in der Waschküche, wo sie die Wäsche für das gesamte Arbeitshaus erledigten, mit Schrubben – der Vorsteher war geradezu besessen davon, dass alles ordentlich geschrubbt war –, mit der Zubereitung des kärglichen Essens für alle Insassen, mit groben Näharbeiten, etwa an Säcken, Segeln und Matten, und mit der eigenartigsten Tätigkeit von allen, nämlich Werg zupfen. Dabei ging es darum, alte Seile, die für gewöhnlich geteert waren, auseinanderzudrehen und in einzelne Fäden aufzulösen, die dann verwendet wurden, um die Fugen hölzerner Schiffe abzudichten. Es klingt einfacher, als es war. Die Seile waren oft hart wie Stahl, besonders wenn sie mit einer Kruste aus Öl, Teer oder Salz überzogen waren, und beim Auseinanderzupfen schnitt man sich in die Hände, die Finger wurden rau und bluteten.
Und doch war die Arbeitszeit nicht so schrecklich wie die Zeit der Erholung. Mrs Jenkins fand sich inmitten von rund einhundert Frauen aller Altersgruppen wieder, darunter auch kranke und gebrechliche. Viele waren offenkundig verrückt oder dement. Wenn sie von ihrer körperlichen Arbeit müde waren, gab es keine Sitzgelegenheit außer den Bänken in der Mitte des Tagesraums oder dem Innenhof. Wenn sie sich ausruhen wollten, saßen die Frauen Rücken an Rücken auf einer Bank und lehnten sich aneinander. Es gab nichts zu tun, nichts zu betrachten und nichts zum Zuhören, keine Bücher, nichts, was den Geist anregte. Viele Frauen gingen einfach auf und ab oder immer im Kreis herum. Die meisten sprachen mit sich selbst oder schaukelten ständig vor und zurück. Manche stöhnten laut oder heulten den nächtlichen Himmel an.
»So werd ich auch mal«, dachte Mrs Jenkins.
Zweimal am Tag kamen sie für eine halbe Stunde in den Innenhof, um Leibesübungen zu machen. Im Hof konnte Mrs Jenkins die Stimmen der Kinder hören, aber die Mauern waren fast fünf Meter hoch, daher konnte sie nicht hinüberschauen. Sie versuchte ihre Kinder zu rufen, aber man befahl ihr, damit aufzuhören, sonst dürfe sie nicht mehr in den Hof. Also stand sie nur an der Mauer, hinter der sie die Stimmen zu hören glaubte, flüsterte ihre Namen und lauschte auf die Stimmen, in der Hoffnung, eines ihrer Kinder zu erkennen.
»Ich wusst nich, was ich falsch gemacht hatte, dass ich da drin saß. Ich hab die ganze Zeit nur geheult. Un ich wusst nich, was die mit den Kleinen gemacht hatten.«
Als der Frühling kam und die Tage länger und wärmer wurden und überall ringsumher in einer Welt, die sie über die Mauern des Arbeitshauses nicht sehen konnte, neues Leben zu sprießen begann, wurde Mrs Jenkins darüber informiert, dass ihr jüngstes Kind, ein dreijähriger Junge, gestorben war. Als sie nach dem Grund fragte, hieß es, dass er immer schon kränklich gewesen sei und niemand erwartet habe, dass er überlebe. Sie bat darum, zu der Beerdigung gehen zu dürfen, aber ihr wurde gesagt, er sei bereits begraben.
Der kleine Junge war der Erste. Mrs Jenkins sah keines ihrer Kinder je wieder. Im Lauf der folgenden vier Jahre starb eins nach dem anderen. Ihre Mutter wurde von jedem Todesfall in Kenntnis gesetzt, eine Todesursache erfuhr sie nicht. Sie ging zu keiner Beerdigung. Das letzte Kind, das starb, war ein vierzehnjähriges Mädchen. Es hieß Rosie.
Von Schweinen und Kurseinbrüchen
Erwarten Sie das Unerwartete, dann liegen Sie immer richtig. Fred hatte einen schweren Rückschlag erlitten, als sein Wachtel-und-Zuckerapfel-Imperium zwangsweise ein Ende fand, und er sah sich nach einem neuen Projekt um. Das Unerwartete war eine beiläufige Bemerkung von Mrs B., die in die Küche kam und vor sich hin murmelte: »Die Welt geht aber wirklich den Bach
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