Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
bereits durchtrennt, als die Maschine angehalten werden konnte. Sie hatte Glück, dass sie den Arm nicht einbüßte. Sie zeigte uns die etwa fünfzehn Zentimeter lange Narbe. Die Schnitte wurden nie genäht, denn sie konnte sich keinen Arzt leisten, und wenngleich die Wunden verheilten, ließen sie eine breite, tiefrote, unregelmäßige Narbe zurück. Ihr Arm war leicht verkümmert, da die Bänder nicht wieder zusammengenäht worden waren. Es war erstaunlich, dass sie ihre Hand überhaupt wieder gebrauchen konnte.
Regungslos betrachtete sie die Narbe. »Das wars, was uns erledigt hat«, sagte sie.
Die Familie zog aus dem Hinterzimmer aus und kam in einem fensterlosen Keller unter. Das Haus lag in der Nähe des Flusses, und wenn bei Flut der Wasserspiegel stieg, sickerte Feuchtigkeit durch die Ziegel und lief die Mauer hinunter. Für dieses Loch verlangte der Hausbesitzer einen Shilling pro Woche, doch wie konnte man das bezahlen, wenn die Mutter nichts verdiente?
Sie ging betteln, doch die Polizei, die in ihr nur eine unerwünschte Herumtreiberin sah, vertrieb sie. Sie verpfändete ihren Mantel, kaufte von dem Geld Streichhölzer und verkaufte sie dann auf der Straße. Der Gewinn aus diesem Geschäft brachte ein wenig Geld, doch es reichte nicht, um die Miete zu bezahlen und die Kinder zu ernähren.
Nach und nach verpfändete sie alles, was sie hatte: Möbel, Töpfe, Teller und Tassen, Kleider und Bettwäsche. Zuletzt das Bett, in dem sie alle schliefen. Sie baute ein Podest aus Orangenkisten, damit sie wenigstens nicht auf dem feuchten Boden liegen mussten. Zum Schluss mussten auch die Decken noch ins Pfandhaus und Mutter und Kinder schmiegten sich nachts aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen.
Sie beantragte beim Arbeitshaus Unterstützung für Nichtinsassen, doch der Vorsitzende der Kommission sagte, dass sie faul und arbeitsscheu sei, und als sie von dem Unfall in der Fabrik erzählte und ihren rechten Arm vorzeigte, wurde sie zurechtgewiesen, sie solle nicht frech werden, man werde es nur zu ihrem Nachteil auslegen. Die hohen Herren berieten sich und boten an, ihr zwei ihrer Kinder abzunehmen. Sie lehnte ab und kehrte mit sechs hungrigen Mägen, die zu füllen waren, zurück in den Keller.
Ohne Licht und Heizung, bei ständiger Feuchtigkeit und Schimmel und so gut wie ohne Essen wurden die Kinder schnell kränklich. Die Familie kämpfte sechs Monate weiter und noch immer konnte die Mutter nicht arbeiten gehen. Sie verkaufte ihr Haar, sie verkaufte ihre Zähne, aber es reichte vorne und hinten nicht. Das Baby wurde lethargisch und entwickelte sich nicht weiter. Mrs Jenkins nannte es das »Schwindfieber«.
Als das Baby starb, war nicht genug Geld für ein Begräbnis da, so legte sie es in eine Orangenkiste, beschwerte sie mit Steinen, verschloss sie und übergab das Kind dem Fluss.
Als sie sich mitten in der Nacht mit ihrem toten Baby heimlich ans Wasser schlich, gab sie sich geschlagen, sie wusste, dass der unvermeidliche Moment gekommen war. Sie musste mit den Kindern ins Arbeitshaus.
Das Arbeitshaus
Das System der Arbeitshäuser nahm mit dem Armutsgesetz von 1834 seinen Anfang. 1929 wurde das Gesetz außer Kraft gesetzt, aber die Arbeitshäuser wurden noch mehrere Jahrzehnte weiter betrieben, denn die Insassen konnten nirgendwo anders hin, und wer zu lange dort gelebt hatte, konnte keine eigenen Entscheidungen mehr treffen oder in der Welt jenseits des Arbeitshauses für sich sorgen.
Alles ging auf einen wohltätigen Gedanken zurück, denn bis dato konnte man Arme und Notleidende jederzeit überall fortjagen, ohne dass sie irgendwo Unterkunft fanden, und es war nicht wider das Gesetz, wenn ihre Verfolger sie erschlugen. Auf die verarmte Bevölkerung der 1830er-Jahre muss das System der Arbeitshäuser wie das Himmelreich gewirkt haben: eine Unterkunft für die Nacht, ein Bett zum Schlafen, und sei es zu mehreren, Kleider und zu essen – nicht gerade üppig, aber ausreichend –, mit Arbeit als Gegenleistung, gegen Lohn, den man behalten durfte. Es muss ihnen wie ein Akt reiner Güte und christlicher Nächstenliebe vorgekommen sein. Doch wie so viele gute Absichten verkehrte es sich schnell ins Gegenteil.
Mrs Jenkins und ihre Kinder verließen den Keller, als sie die Miete für drei Wochen schuldig waren. Der Hausbesitzer hatte ihr mit der Peitsche gedroht, sollte sie nicht am kommenden Tag zahlen, und so waren sie nachts gegangen. Die Familie hatte nichts mehr zum Mitnehmen. Weder die Mutter
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