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Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End

Titel: Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Worth
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schreien und Türen zuschlagen. Dann hörte sie nichts mehr. Viel später erzählte ihr eine freundliche Frau, die in der Küche arbeitete, dass es einen kleinen Jungen gegeben hatte, der immer weinte, der die riesige Tür des Kinderbereichs nie aus den Augen ließ und jeden ansah, der hereinkam. Das einzige Wort, das er je sprach, vom Tag seiner Ankunft bis zu dem Tag, an dem er starb, war »Mummy«. War das ihr kleiner Junge gewesen? Sie fand es nie heraus, aber es war möglich.
    Ich befragte Schwester Evangelina zu der Trennungspraxis, die mir derart unmenschlich vorkam, dass es so etwas doch nicht gegeben haben konnte, aber sie versicherte mir, dass es stimmte. Familien voneinander zu trennen war die erste Regel in allen Arbeitshäusern des Landes und sie wurde mit aller Konsequenz angewandt. Ehemänner wurden von ihren Frauen getrennt, Eltern von ihren Kindern, Brüder von ihren Schwestern. In der Regel sahen sie einander nie wieder.
    Wenn Mrs Jenkins seltsam war, dann war es kein Wunder.
    Es war schon spät, als ich sie eines Abends besuchte. Es war dunkel und im Durchgang neben dem Haus, der zu ihrer Hintertür führte, hörte ich eine seltsam gedämpfte menschliche Stimme, die einen rhythmischen Singsang von sich gab. Ich blickte durch das Fenster und sah, wie Mrs Jenkins auf Händen und Knien den Boden schrubbte. Eine Öllampe stand neben ihr und warf den riesigen, geisterhaften Schatten ihrer zierlichen Gestalt an die Wand. Sie hatte einen Eimer Wasser und eine Wurzelbürste bei sich und schrubbte im Wahn eine einzige Steinplatte ihres Fußbodens. Dabei schien sie die ganze Zeit die immer gleichen rhythmischen Worte zu wiederholen, die ich nicht verstehen konnte, aber sie wechselte nie ihre Position.
    Ich klopfte an die Tür und trat ein. Sie hob den Kopf, aber wandte sich nicht um.
    »Rosie? Komm her, Rosie. Schaus dir an. Wie sauber alles is. Vorsteher wirds gefallen, wenn er sieht, wie ichs geschrubbt hab.«
    Sie blickte zu ihrem eigenen riesigen Schatten auf.
    »Schaun Sie, Herr Vorsteher. Alles sauber, un ich habs ganz allein geschafft. ’s is alles sauber, un ich habs gemacht, um Ihnen zu gefalln, Herr Vorsteher. Die ham gesagt, ich kann meine Klein’n sehn, wenns Ihnen gefällt, Herr Vorsteher. Darf ich? Darf ich? Ach, bitte, nur einmal.«
    Ihr Murmeln wurde zum Schrei und ihr zarter Körper stürzte nach vorn. Sie schlug mit dem Kopf gegen den Eimer und wimmerte vor Schmerz. Ich ging zu ihr.
    »Ich bins, die Schwester. Ich komme zur Abendvisite. Geht es wieder, Mrs Jenkins?«
    Sie schaute zu mir auf, aber sagte kein Wort. Sie saugte an ihren Lippen und sah mich an, als ich ihr auf die Beine half und sie zum Sessel führte.
    Auf dem kargen Tisch stand ein Mittagessen, das ihr die Damen von »Essen auf Rädern« gebracht hatten. Es war unberührt und schon lange kalt.
    Ich nahm den Teller und sagte: »Hatten Sie denn keine Lust auf Ihr Mittagessen?«
    Sie fasste mich ungewöhnlich fest beim Handgelenk und schob meinen Arm weg. »Für Rosie«, sagte sie in einem rauen Flüsterton.
    Ich prüfte ihren physischen Zustand und stellte ihr einige Fragen, auf die sie nicht antwortete. Sie starrte mich nur an, ohne zu blinzeln, und saugte weiter an ihren Lippen.
    Bei einem anderen Besuch kicherte sie vor sich hin, während sie mit einem Stück Gummiband spielte. Sie dehnte es und ließ es wieder locker und wickelte es sich um den Finger. Als ich eintrat, sagte sie zu mir: »Meine Rosie hat mir gestern Abend ’n Stück Gummiband gebracht. Schau mal, wie elastisch. Schön fest. Sie is ’n schlaues Mädchen, meine Rosie. Sie kann immer ’n Stück Gummiband besorgen, wenn mans braucht.«
    Ich begann mich über Rosie zu ärgern. Eine große Hilfe war sie ihrer alten Mutter ja nicht. Ein Stück Gummiband! Mehr hatte sie nicht für sie übrig?
    Dann aber sah ich, welche zärtliche, glückliche Regung sich in dem alten Gesicht zeigte, und bemerkte die Wärme und Liebe in ihrer Stimme, während sie mit dem Gummiband hantierte. »Meine Rosie hat mir das gegeben. Für mich hat sies besorgt. Sie is ’n liebes Mädchen, meine Rosie.«
    Nun war ich doch gerührt. Vielleicht war Rosie ja so ein schlichtes Gemüt wie ihre Mutter und ebenso sehr von ihrer Kindheit im Arbeitshaus gezeichnet. Ich fragte mich, wie lange sie dort gelebt hatte und was mit ihren Geschwistern geschehen war.
    Das Leben im Arbeitshaus war schrecklich. Alle Insassen waren in ihrem jeweiligen Bereich eingesperrt. Er bestand jeweils aus einem

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