Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Schlachter. Kein Wunder, dass der Schwung aus Freds kurzen, krummen Beinchen raus war. Kein Wunder, dass sein nordöstliches Auge zu Boden blickte.
Sonntag war ein Tag der Ruhe im Nonnatus House. Nach der Kirche versammelten wir uns in der Küche bei Kaffee und Kuchen, den Mrs B. am Samstag zuvor gebacken hatte. Fred packte gerade seine Sachen und wollte gehen, aber Schwester Julienne lud ihn ein, sich zu uns an den großen Esstisch zu setzen. Wir kamen auf das Schwein zu sprechen; eine Kippe hing von seiner Lippe herab.
»Was mach ich nur mit ihr? Das ganze Futter kost Geld un ich krieg nix mehr für sie.«
Alle hatten Mitleid mit ihm und murmelten »so ein Pech« und »eine Schande«, aber Schwester Julienne sah ihn geradeheraus an und sagte dann mit klarer, ernster Stimme: »Sie können sie ja zur Zucht verwenden. Behalten Sie sie als Zuchtsau. Es gibt immer einen Markt für gute, gesunde Ferkel, und wenn sich die Preise wieder erholen, und das werden sie, dann bekommen Sie gutes Geld für sie. Und vergessen Sie nicht, eine Sau bekommt immer zwischen zwölf und achtzehn Ferkel pro Wurf.«
Was für ein Rat – so einfach und naheliegend und doch völlig unerwartet! Freds Kinnlade klappte herunter und seine Kippe fiel auf den Tisch. Er entschuldigte sich, hob sie auf und drückte sie im Aschenbecher aus. Leider war der Aschenbecher Schwester Evangelinas Baisertörtchen, das sie gerade verzehren wollte. Sie beschwerte sich mit dem ihr eigenen Nachdruck.
Fred war es peinlich, er entschuldigte sich noch einmal. Er nahm das Törtchen, wischte die Asche ab, pflückte die Kippe aus der Sahne und gab es Schwester Evangelina zurück. »Ferkel. Das isses. Ich werd Schweinezüchter. Ich werd der beste Schweinezüchter der ganzen Insel.«
Schwester Evangelina schnaubte und schob das Baisertörtchen angeekelt weg. Aber Fred fiel es gar nicht auf. Er war wie in Trance und murmelte: »Ferkel, Ferkel, ich züchte Schweine, ja, genau das mach ich.«
Schwester Julienne, stets praktisch veranlagt und taktvoll, reichte Schwester Evangelina ein neues Baisertörtchen und sagte: »Sie brauchen den Großen Ratgeber der Schweinezucht , Fred, und Sie müssen einen guten Zuchteber finden. Wenn Sie am Anfang Hilfe brauchen, kann ich Ihnen zur Seite stehen. Mein Bruder ist Bauer, ich kann ihn bitten, uns ein Exemplar des Buchs zu schicken.«
So fing alles an. Der Große Ratgeber der Schweinezucht traf ein und schon bald vertieften sich Fred und Schwester Julienne in die Lektüre. Fred beim Lesen zuzusehen, war verstörend, denn er musste das Buch auf der linken Seite seines südwestlichen Auges halten, um überhaupt etwas erkennen zu können. Selbst wenn er ein, zwei Sätze entziffern konnte, die Sprache der Schweinezüchter war ihm völlig fremd, und ohne Schwester Julienne, die den befremdlichen Fachjargon in verständliches Cockneyenglisch übersetzte, wäre er nie weitergekommen.
Ein guter Zuchteber wurde gefunden, es gab ein Telefongespräch, die Sache wurde abgemacht und schon traf ein Kleinlaster aus Essex ein.
Schwester Julienne konnte ihre Aufregung kaum verbergen. Nachdem sie Schwester Bernadette beauftragt hatte, sich in ihrer Abwesenheit um das Haus zu kümmern, zog sie ihren Schleier und ihren Mantel für die Arbeit im Freien an, nahm sich ein Fahrrad aus dem Schuppen und radelte zu Fred.
Der Bauer aus Essex war ein Gentleman vom Lande. Nur selten hatte er je die friedliche Umgebung von Strayling Strawles und Market Sodbury hinter sich gelassen. Was er sich dachte, während er den Laster mit seinem Zuchteber durch das Herz der Londoner Docklands steuerte, ist nicht überliefert. Der Eber stützte sein Kinn zufrieden auf den Rand der Ladefläche und ließ sich die Fahrt gefallen, ohne unterwegs größeres Aufsehen zu erregen, doch das änderte sich, als sie die belebteren Straßen Londons erreichten. Auf seinem Weg durch Dagenham, Barking, East Ham, West Ham bis hinunter nach Cubitt Town und zur Isle of Dogs zog das Schwein die Aufmerksamkeit auf sich. Es war riesig und bekam nur wenig Bewegung, außer bei der Paarung. Es war relativ zahm, doch seine Hauer waren seit zehn Jahren nicht gestutzt worden, daher wirkte es wilder, als es war.
Als der Laster am anderen Ende der Straße um die Ecke bog, traf gerade auch Schwester Julienne auf ihrem Fahrrad ein und begrüßte Fred. Gemeinsam gingen sie auf den Bauern zu, der sie anstarrte, ohne ein Wort zu sagen. Schwester Julienne schaute auf Zehenspitzen auf die Ladefläche
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