Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Angst.
»Der bringt sie ja um. Schaut ihn euch an, den Riesenrammler. Der beißt sie ja. Da. Das mach ich nich mit, nich mit mir. Der bringt sie um. Oder bricht ihr die Beine oder so. Jetz is aber Schluss, ich geh da jetz raus. Das is ja barbarisch, Mensch, Leute.«
Schwester Julienne musste ihn zurückhalten.
»Das ist alles ganz natürlich. So machen sie es eben, Fred.«
Fred war nicht leicht zu beruhigen. Schwester Julienne und der Bauer mussten ihn festhalten, bis es vorüber war.
Die Nonnen waren in der Kapelle versammelt und knieten ins Gebet vertieft auf ihren Bänken. Die Glocke läutete gerade zur Vesper, als Schwester Julienne das Nonnatus House betrat. Erhitzt und aufgeregt eilte sie den Flur hinab und hinterließ Spuren in Form einer klebrigen, stark riechenden Substanz auf dem Fliesenboden. Schnell fasste sie sich, nahm ihren Platz am Lektorenpult ein und begann zu lesen:
»Schwestern, seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher,
der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht,
welchen er verschlinge.«
Ein, zwei Schwestern blickten in ihrem Gebet auf und schauten sie aus dem Augenwinkel an. Einige schnupperten misstrauisch.
Sie fuhr fort:
»Der Widersacher brüllt in Mitten deiner Zusammenkunft.
Dein Feind hat deine heilige Stätte besudelt.«
Das Schnuppern wurde lauter und die Schwestern schauten einander stumm an.
»Ich jedoch wandele mit den Frommen.«
Der Küster füllte das Weihrauchfass mit einer ungewöhnlich großen Menge Weihrauch und begann es mit Elan zu schwenken.
»Ich aber sprach, da mir’s wohl ging: Ich werde nimmermehr darniederliegen.«
Rauch erfüllte den Raum.
»Doch du, oh Herr, hast meinen Stolz geseh’n
Und Missgeschick gesandt, mich Demut zu lehren.«
Unter den Schwestern entstand eine gewisse Unruhe. Diejenigen, die neben Schwester Julienne knieten, rückten ein wenig zur Seite. Es rückt sich nicht leicht zur Seite, wenn man gerade kniet und außerdem ein Nonnenhabit trägt, aber im Notfall ist es möglich.
»Doch du wendetest ab dein Gesicht von mir
Und ich war in Sorge. So rief ich
Meinen Herrn, voll Demut.«
Das Weihrauchfass schwang vehement, dichter Rauch quoll hervor.
»Und ich werde rufen zu meinem Herrn: Ich bin
Unrein. Ich bin nicht wert, in deinem heiligen Haus zu wohnen.«
Es wurde gehustet.
»Zu dir, Herr, rief ich
Was ist nütze an meinem Blut, wenn ich zur Grube fahre?
Herr, höre mein Gebet und lass mein Schreien
zu dir kommen!«
Schließlich, und keine Minute zu früh, war die Vesperfeier zu Ende. Mit roten Augen, hustend und prustend traten die Schwestern aus der Kapelle.
Es dauerte lange, bis es Schwester Julienne gelungen war, Gras über die Schmach wachsen zu lassen, dass sie den Gestank von Schweinemist in die Kapelle getragen hatte, und ich bin mir sicher, dass Gott ihr weit eher vergeben hat als ihre Mitschwestern.
Gemischter Abstammung I
In den 1950er-Jahren gab es in London nur eine sehr kleine Anzahl von Afrikanern und Menschen aus der Karibik. Die Londoner Häfen waren, wie die Häfen anderer Länder auch, immer schon ein Schmelztiegel verschiedener Einwanderer. Unterschiedliche Nationalitäten, Sprachen und Kulturen trafen aufeinander, mischten sich und waren meist durch das Band der Armut miteinander verbunden. Das East End bildete da keine Ausnahme und so war im Lauf der Jahrhunderte wohl nahezu jedes Volk der Welt absorbiert worden und hatte seine Spuren hinterlassen. Toleranz und Herzlichkeit hatten immer schon die Lebensart der Cockneys geprägt, und obwohl man Fremde zunächst vielleicht argwöhnisch beäugte, blieb es meist nicht lange dabei.
Die meisten Einwanderer waren junge, alleinstehende Männer. Männer waren schon immer mobil, Frauen hingegen nicht. Damals war es für eine arme junge Frau geradezu unmöglich, allein die große, weite Welt zu durchstreifen. Mädchen hatten zu Hause zu bleiben. So schlimm es zu Hause auch sein mochte, so groß Leid und Armut waren und so sehr sie sich nach Freiheit sehnten, sie saßen in der Falle. Für die allermeisten Frauen dieser Welt hat sich an diesem Schicksal bis heute wenig geändert.
Männern ging es in dieser Hinsicht immer schon besser, und sobald sein Magen gefüllt ist, ist ein ungebundener junger Mann an einem fernen Ort nur auf eines aus – Mädchen. Die Familien des East Ends passten immer gut auf ihre Töchter auf, denn es ist nicht lange her, dass Schwangerschaften außerhalb der Ehe als größtmögliche Schande galten und als
Weitere Kostenlose Bücher