Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Wehen, zum anderen wegen des Wetters. Wie um alles in der Welt sollte ich den Weg nach Limehouse finden? Ich hatte einen der älteren Söhne am Telefon, der mir kurz die Lage erläuterte. Meine erste Frage war: »Habt ihr schon einen Arzt gerufen?« Das hatte er, aber der Arzt war außer Haus. »Dann müsst ihr es weiter versuchen«, sagte ich, »denn eure Mutter ist vielleicht krank. Wenn sie eine Gehirnerschütterung hat und ihre Temperatur sehr niedrig ist, kann es sein, dass sie medizinisch versorgt werden muss, ganz abgesehen von der Schwangerschaft. Ruf jetzt gleich wieder beim Arzt an. Vielleicht wird er Probleme haben, zu euch zu gelangen, aber das ist bei mir nicht anders.«
Ich legte auf und blickte aus dem Fenster. Ich sah überhaupt nichts. Es schien, als umkreisten dichte, graue Nebelschwaden die Scheiben, um zu versuchen hineinzugelangen. Das Mitgefühl für Conchita in ihrer schrecklichen Lage, aber auch meine eigene Abneigung, vor die Tür zu gehen, ließen mich schaudern. Die Nebelhörner der Schiffe auf dem Fluss und die Signale der Werften tönten dumpf durch die Nacht.
Wir waren in den vergangenen drei Tagen kaum aus dem Haus gegangen und hatten gehofft und gebetet, dass bei keiner unserer Patientinnen Wehen einsetzten, ehe sich der Nebel gelichtet hatte. In dieser Situation konnte und durfte ich nicht allein handeln.
Ich ging, um Schwester Julienne zu rufen. Nonnen gehen um neun Uhr schlafen, weil sie zum ersten Gebet des Tages um vier Uhr aufstehen müssen, also war halb zwölf mitten in der Nacht. Trotzdem war Schwester Julienne schon beim ersten sanften Klopfen an ihre Tür hellwach.
»Wer ist da?«, rief sie.
Ich nannte meinen Namen und sagte ihr, dass Conchita Warren vorzeitige Wehen hatte.
»Warten Sie einen Moment.«
Dreißig Sekunden später stand Schwester Julienne neben mir im Flur und schloss die Tür ihrer Zelle hinter sich. Sie trug einen Bademantel aus grobem braunen Wollstoff und zu meiner Überraschung ihren Schleier. Geht sie mit dem Ding etwa ins Bett?, schoss es mir durch den Kopf. Das musste verdammt unbequem sein.
Doch es blieb keine Zeit für Gedanken über das Habit einer Nonne. Ich erzählte ihr in aller Kürze, was ich am Telefon erfahren hatte.
Sie dachte einen Moment nach und sagte dann: »Bis Limehouse sind es mehr als drei Meilen. Es kann sein, dass Sie es nicht bis dorthin schaffen. Es würde nichts ändern, wenn ich oder eine der anderen Hebammen Sie begleiteten, denn zwei können sich ebenso leicht verlaufen wie eine allein. Sie brauchen eine Polizeieskorte. Gehen Sie und rufen Sie die Polizei an, und Gott sei mit Ihnen, meine Liebe. Ich werde für Conchita Warren und ihr ungeborenes Kind beten.«
Zu wissen, dass Schwester Julienne für uns betete, hatte eine außerordentliche Wirkung. Alle Anspannung und Furcht fiel von mir ab, ich fühlte mich ruhig und selbstbewusst. Ich hatte gelernt, die Macht des Gebets wertzuschätzen – was für eine Wandlung für ein eigensinniges Mädchen, für das noch ein Jahr zuvor Beten nur ein Witz gewesen war.
Ich sprach mit der Polizei und sagte, es handele sich um einen Notfall. Man erklärte mir, dass es zu Fuß am sichersten, aber per Fahrrad am schnellsten gehe. Der Polizist sagte: »Ihnen einen Wagen zu schicken, bringt nichts, denn man kann kaum weiter als bis zur Motorhaube sehen und ein Mann müsste zu Fuß vorausgehen. Wir schicken Ihnen eine Fahrradeskorte.«
Ich sagte, ich sei in zehn Minuten so weit. Meine Entbindungstasche war bereits gepackt. In Gedanken war ich bei Conchita – ich glaubte nicht, dass das Baby nach rund achtundzwanzig Wochen gute Überlebenschancen hatte. Bei dem Smog war es eine knifflige Angelegenheit, den Schuppen zu finden und das Fahrrad zu beladen, doch keine zehn Minuten später stand ich vor dem Nonnatus House.
Bald darauf trafen zwei Polizisten ein. Ihre Fahrräder hatten vorn und hinten extrem starke Lampen, die etwa zwei Meter voraus die Straße erhellten. Einer fuhr vor mir her, ich sollte ihm folgen. Der andere fuhr zwischen mir und dem Bordstein. So kamen wir erstaunlich schnell vorwärts, denn es herrschte ansonsten kein Verkehr.
Heute, fast ein halbes Jahrhundert später, erscheint es einem absurd, auf Fahrrädern mit zehn Meilen in der Stunde zu einem Notfall zu rasen. Aber selbst aus heutiger Sicht fällt mir nichts Besseres ein. Was hat man von einem schnellen Polizeiwagen, wenn die Sichtweite null beträgt?
Wir trafen knapp eine Viertelstunde später bei den
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