Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
wirklich schade. Ein paar Monate später fand man vier Männer im Besenschrank – oder war es die Wäschekammer, ich weiß nicht mehr – und niemand hat je herausgefunden, wer dafür verantwortlich war. Es ist auch ganz gleich, denn wer kann schon sagen, wie viele Schwestern unserer Zunft verloren gegangen wären, wenn man sie ertappt hätte. Es war kurz vor dem Krieg und ausgebildete Krankenschwestern wurden dringend gebraucht.«
Dann kam der Nachtisch. Schwester Julienne stand auf, um ihn zu verteilen. Ein seltsames Geräusch von der anderen Seite des Tischs erregte meine Aufmerksamkeit und ich schaute hinüber. Zu meinem größten Erstaunen war es Schwester Evangelina und sie lachte! Ja, sie lachte so heftig, dass sie in ihre Serviette prustete. Ihr Sitznachbar Jimmy, ganz hilfsbereiter Gentleman, klopfte ihr auf den Rücken und reichte ihr ein Glas Wasser. Sie stürzte es hinunter und trocknete sich Augen und Nase, während sie weiter japste und kicherte.
»Oh je. Das ist zu viel … das erinnert mich an damals, als … das werde ich nie vergessen …«
Jimmy machte sich nun daran, ihren Rücken entschlossener zu bearbeiten, und das schien zu helfen, wenngleich ihr Schleier dabei verrutschte.
Wir waren alle entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Nie zuvor hatte man Schwester Evangelina im Kloster so aus vollem Herzen lachen sehen und es hatte offenbar etwas mit jungen Männern zu tun, die in Schwesternzimmern ertappt worden waren.
»Was ist damals passiert? Erzählen Sie.«
»Na los, zieren Sie sich nicht.«
Schwester Julienne hielt mit dem Löffel in der Hand inne.
»Ach, kommen Sie, Schwester. Sie können uns doch nicht so auf die Folter spannen. Was ist das für eine Geschichte? Jimmy, geben Sie ihr noch ein Glas Wein.«
Aber Schwester Evangelina konnte oder wollte uns nichts erzählen. Sie putzte sich die Nase und wischte sich die Augen. Sie prustete, gluckste und hustete. Aber sie sagte kein Wort mehr. Sie grinste nur schelmisch in die Runde. Wann hatte man je ein Grinsen von Schwester Evangelina erlebt, noch dazu ein schelmisches!
Schwester Monica Joan hatte diese amüsante Szene mit halb geschlossenen Augen mitverfolgt, ein zartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Ich fragte mich, was sie wohl dachte. Schwester Evangelina sah schlimm aus, ihr Schleier hing schief, ihr Gesicht war knallrot und es glänzte feucht um Augen, Nase und Mund. Ich rechnete mit einem eiskalten Kommentar und ich glaube, Schwester Evangelina erwartete das Gleiche, denn sie schaute ihre Mitschwester, die sie so oft gequält hatte, in gespannter Erwartung an. Aber wir täuschten uns beide.
Schwester Monica Joan wartete, bis das Gelächter abgeebbt war, und rezitierte langsam und betont, mit dem Timing einer begabten Schauspielerin: »›Oh, ich werde gedenken, der gemeinsamen Zeit / Einst werd ich gedenken, ohne Reue zu spürn.‹«
Sie machte eine Kunstpause, lehnte sich über den Tisch zu Schwester Evangelina hinüber und zwinkerte ihr zu. In einem Theaterflüstern, das alle verstehen konnten, sagte sie vertraulich: »Kein Wort mehr, meine Liebe, kein Wort. Dieses neugierige Volk. Es tönt und tuschelt. Es schnattert und tratscht. Gib diesen niederen Erwartungen kein Futter, meine Liebe, es wird dir die Erinnerung nur verderben!«
Sie sah Schwester Evangelina in die Augen und blinzelte ihr wieder voller Wärme und Verständnis zu. War das möglich? Bildete ich es mir nur ein? Lag es am Licht? Sah ich Schwester Evangelina – oder etwa nicht – zurückblinzeln?
Schwester Evangelina gab nichts preis. Ich wage zu behaupten, dass sie die Geschichte in ihrem Herzen bewahrte und mit ins Grab nahm.
Der Nachtisch war ein Meisterwerk und zeugte von Mrs B.s kulinarischem Erfindungsreichtum. Schwester Monica Joan nahm sich eine zweite Portion Eiscreme mit Schokokaramellsoße und ein bisschen Apfelkuchen. Sie war in Hochform.
»Ich erinnere mich, wie ein junger Mann in einem Wandschrank im Queen Charlotte’s Hospital eingesperrt war«, erzählte sie. »Er war drei Stunden lang dort eingeschlossen. Alles wäre bis zum Schluss gutgegangen und keiner hätte es je herausgefunden, aber der dumme Kerl hatte sich das Pferd seines Vaters ausgeliehen und vor dem Krankenhaus am Treppengeländer angebunden. Jetzt kann man natürlich einen jungen Mann im Schrank oder unter dem Bett verstecken. Aber wie um alles in der Welt versteckt man ein Pferd?«
Ich hielt den Atem an, als mir klar wurde, dass diese Erinnerungen aus den
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