Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
unentbehrlich waren. Das erfüllte sie und sie spürten, dass ihr Leben auch weiterhin einen Sinn hatte. Sie war voller Energie und hatte Neuigkeiten. »Sie is gleich eingeschlafen, als du gegangen bist. Sie war auf der Toilette und hat Wasser gelassen. Sie hat ein bisschen Tee getrunken und jetzt mach ich ihr ein schönes Stück Fisch. ’s Baby war schon an der Brust, da hab ich mich drum gekümmert, aber es kommt noch keine Milch.«
Ich dankte ihr und ging hinauf. Das Schlafzimmer wirkte sauber, frisch und hell, und auf der Kommode standen Blumen. Verglichen mit dem Dreck in Mollys Wohnung war es das Paradies.
Muriel war wach, aber müde. Das Erste, was sie zu mir sagte, war: »Ich will jetz kein’n Fisch. Kannst du meiner Mum das sagen? Mir is nich danach, aber sie hört mir nich zu. Vielleicht hört sie auf dich.«
Hier gab es offenbar eine Meinungsverschiedenheit zwischen Mutter und Tochter. Doch ich wollte mich nicht einmischen. Ich maß ihren Puls und ihren Blutdruck – alles normal. Ich bemerkte etwas Wochenfluss, aber nicht in größeren Mengen und die Gebärmutter fühlte sich normal an. Ich untersuchte ihre Brüste. Es floss ein wenig Kolostrum, aber keine Milch, wie ihre Mutter es schon angekündigt hatte. Ich wollte das Baby dazu bringen zu trinken, denn das war der Hauptgrund meines Besuchs.
Es schlief friedlich in seiner Wiege. Von der runzligen Haut, verfärbt von dem Stress und dem Trauma der Geburt, von den ängstlichen Schreien und der Furcht beim Eintritt in die Welt war keine Spur mehr zu erkennen. Der Kleine war ganz entspannt und lag warm und friedlich da. Nahezu jeder, der einmal ein neugeborenes Baby gesehen hat, berichtet von dem besonderen Eindruck, den es auf ihn macht. Die Skala reicht von Ehrfurcht bis Erstaunen. Die Hilflosigkeit eines neugeborenen Menschen hat auch mich immer beeindruckt. Alle anderen Säugetiere haben bei ihrer Geburt schon ein gewisses Maß an Selbstständigkeit. Viele Tiere können innerhalb der ersten ein bis zwei Stunden stehen und laufen. Andere finden zumindest eine Zitze und beginnen zu saugen. Doch menschliche Babys können noch nicht einmal das. Würde man ihnen nicht die Brustwarze oder einen Sauger zum Mund führen und sie zum Saugen ermuntern, würden sie verhungern. Ich habe meine eigene Theorie, dass die Menschen eigentlich alle zu früh auf die Welt kommen. Wenn man sich die Lebenszeit eines Menschen vor Augen führt – etwa siebzig Jahre –, dann müsste die Tragzeit, verglichen mit der anderer Tiere, die ähnlich lange leben, etwa zwei Jahre betragen. Doch im Alter von zwei Jahren ist der Kopf eines Menschen so groß, dass keine Frau ihn mehr gebären könnte. Und deshalb werden unsere Babys so früh geboren, wenn sie noch völlig hilflos sind.
Ich hob das winzige Wesen aus seiner Wiege und brachte es Muriel. Sie wusste, was zu tun war, und hatte bereits ein wenig Kolostrum aus der Brustwarze gedrückt. Wir strichen etwas davon auf die Lippen des Babys. Es interessierte sich nicht dafür, wand sich und drehte den Kopf zur Seite. Wir versuchten es noch einmal, aber die Reaktion war die gleiche. Wir brauchten mindestens eine Viertelstunde und viel Geduld, um das Baby dazu zu bringen, seinen Mund weit genug zu öffnen, dass wir ihm die Brustwarze hineinstecken konnten. Der Kleine saugte etwa dreimal und schlief wieder ein. Er schlief tief, als sei er von all der Anstrengung erschöpft. Muriel und ich mussten lachen.
»Man denkt ja fast, dass er die ganze Arbeit gemacht hat«, sagte sie, »und nicht wir beide, was, Schwester?«
Wir waren beide der Meinung, es fürs Erste dabei bewenden zu lassen. Ich wollte am Abend wiederkommen und sie konnte es am Nachmittag wieder versuchen, wenn sie mochte.
Als ich die Treppe hinunterkam, roch ich, dass gekocht wurde. Es mochte nicht nach Muriels Geschmack sein, aber meine Magensäfte zeigten sich begeistert. Ich war hungrig wie ein Wolf und im Nonnatus House erwartete mich ein leckeres Mittagessen. Ich sagte Auf Wiedersehen und ging zu meinem Fahrrad. Mrs Jenkins stand gleich daneben, als bewache sie es. Wie werde ich sie bloß los?, dachte ich. Ich wollte nicht mit ihr reden. Ich wollte nur zu meinem Mittagessen, doch sie hielt das Rad am Sattel fest. Sie wollte mich offenbar nicht fortlassen, ohne dass ich ihr Informationen gegeben hatte.
»Wie gehts ihr? Un dem Klein’n. Wie gehts dem Klein’n?«, zischte sie mich an, ohne dabei auch nur zu blinzeln.
Obsessives Verhalten hat immer etwas
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