Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
zusammen. Ich dachte, es sei eine Ratte. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich zwei kleine Gesichter, die hinter einem Stuhl hervorschauten. Molly hatte gehört, wie mir vor Schreck der Atem gestockt hatte, und sagte: »Alles is gut, Tom, komm her.«
Natürlich mussten hier kleine Kinder sein, dachte ich. Immerhin war es ihre dritte Schwangerschaft und sie war erst neunzehn, also gingen sie wohl kaum schon zur Schule. Warum nur hatte ich sie vorher nicht gesehen?
Zwei kleine Jungen, etwa zwei, drei Jahre alt, kamen hinter dem Stuhl hervor. Sie waren völlig still. Jungen in diesem Alter rennen für gewöhnlich umher und machen einen Riesenlärm, aber diese beiden nicht. Es war geradezu unnatürlich, dass sie so still waren. Ihre riesigen Augen waren voller Angst, als sie einen Schritt vorwärts machten und sich aneinanderklammerten, als wollten sie sich gegenseitig beschützen, dann wichen sie wieder hinter den Stuhl zurück.
»Es is alles gut, Kinder, es is nur die Schwester. Die tut euch nix. Kommt her.«
Sie kamen wieder hervor. Zwei schmutzige kleine Jungen, rotz- und tränenverschmiert. Sie trugen nichts als Pullover, was ich in Poplar oft gesehen habe, und diese Angewohnheit fand ich irgendwie besonders abstoßend. Kleinkindern zog man nur Oberkleidung an und ließ sie unterhalb der Hüfte nackt. Besonders bei kleinen Jungen schien das weit verbreitet. Ich hörte, dass die Frauen sich auf diese Weise das Wäschewaschen sparten. Das Kind konnte, bis es trocken war, überall urinieren, daher gab es weder Windeln noch Kleider zu waschen. Kinder rannten so oft den ganzen Tag über auf den Galerien und in den Innenhöfen umher.
Tom und sein kleiner Bruder krochen aus ihrer Ecke und rannten zu ihrer Mutter. Ihre Angst schien zu verfliegen. Liebevoll streckte sie einen Arm aus und sie kuschelten sich an sie. Zumindest hat sie einen gewissen Mutterinstinkt, dachte ich. Ich fragte mich, wie oft die beiden Kleinen sich hinter ihrem Stuhl versteckten, wenn ihr Vater zu Hause war.
Doch ich war weder Gesundheitsbeauftragte noch Sozialarbeiterin und es nützte nichts, über solche Dinge zu spekulieren. Ich nahm mir vor, den Schwestern von meinen Beobachtungen zu berichten, und sagte Molly, ich käme in der gleichen Woche noch einmal vorbei, um mich zu versichern, dass für eine Hausgeburt alles bereit sei.
Nun musste ich noch Muriel besuchen. Erleichtert verließ ich die stinkende Wohnung.
Das helle, klare Wetter und das Radfahren hinunter zur Isle of Dogs weckten meine Lebensgeister wieder und so trat ich in die Pedale.
»Hallo Liebes, wie gehts?«, war ein Gruß, den mir Frauen wiederholt entgegenriefen, ganz gleich, ob ich sie kannte oder nicht. Es war der übliche Gruß, der vom Bürgersteig hinüberschallte. »Wunderbar, danke, un selber?«, antwortete ich immer. Es fiel mir schwer, nicht selbst in den Cockneydialekt zu verfallen.
Ich glaubs nicht, sagte ich zu mir selbst, als ich in Muriels Straße einbog, sie kann nicht jetzt schon hier sein. Doch da war sie, Mrs Jenkins mit ihrem Stock und ihrem Einkaufsnetz und dem Tuch über ihren Lockenwicklern und ihrem alten, langen, schimmeligen Mantel, den sie im Sommer wie im Winter trug. Sie redete mit einer Frau, die an der Straße stand, und hing geradezu an ihren Lippen. Sie sah, wie ich bremste, kam mir entgegen und krallte sich mit ihren schmutzigen Händen mit den langen Fingernägeln in meinen Ärmel.
»Wie gehts ihr denn, und dem Klein’n?«, krächzte sie.
Ungeduldig zog ich meinen Arm weg. Mrs Jenkins tauchte bei jeder Entbindung auf. Ganz gleich, wie weit weg, wie schlecht das Wetter, wie früh oder wie spät es war, Mrs Jenkins lungerte immer irgendwo auf der Straße herum. Niemand wusste, wo sie wohnte, woher sie ihre Informationen bekam, wie sie es schaffte, manchmal drei oder vier Meilen weit zu dem Haus zu laufen, wo gerade ein Baby zur Welt gekommen war. Aber sie war immer da.
Ich ärgerte mich und ließ sie stehen, ohne ein Wort zu sagen. Für mich war sie einfach nur eine lästige, neugierige Alte. Ich war jung – noch zu jung, um etwas zu ahnen. Zu jung, um den Schmerz in ihren Augen zu erkennen und die qualvolle Dringlichkeit in ihrer Stimme wahrzunehmen.
»Wie gehts ihr? Un dem Klein’n. Wie gehts dem Klein’n?«
Ich ging gleich ins Haus, ohne auch nur zu klopfen, und gleich kam Muriels Mutter geschäftig und lächelnd auf mich zu. Die Mütter der älteren Generation wussten, dass sie in solchen Situationen
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