Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
von der Schwesternschule und wohl auch das Ende meiner Laufbahn in diesem Beruf bedeutet. Ich arbeitete damals im geburtsmedizinischen Krankenhaus der City of London. Eines frühen Abends nach Dienstende wurde ich zu dem einzigen Telefon des Gebäudes gerufen.
»Ist da die bezaubernde Jenny Lee mit den sagenhaften Beinen?«, schnurrte eine sanfte Stimme.
»Lass gut sein, Jimmy. Was ist los und was willst du?«
»Wieso bist du nur so misstrauisch, meine Liebe? Du machst mich über alle Maßen traurig. Wann hast du einen freien Abend? Heute! Welch ein Glück! Treffen wir uns im Plasterer’s Arms ?«
Bei einem geselligen Bier packte er aus. Jimmy und Mike teilten sich eine winzige Wohnung in der Baker Street, doch da auch sonst noch so einiges zusammenkam, namentlich Mädchen, Bier, Kippen, Kino, gelegentliche Pferdewetten, das gemeinsame Auto und diverse andere Erfordernisse, reichte das Geld nie ganz, um die Miete zu bezahlen. Die Vermieterin, natürlich ein Drache, war nachsichtig, wenn die beiden zwei oder drei Wochen im Rückstand waren, aber wenn daraus sechs oder acht Wochen wurden, spie sie Feuer. Eines Abends kamen die Jungs nach Hause, stellten fest, dass alle ihre Kleider verschwunden waren, und fanden einen Zettel vor, auf dem stand, dass sie sie zurückbekämen, sobald alle Rückstände bezahlt seien.
Sie setzten sich mit Papier und Bleistift hin und rechneten aus, dass der Gegenwert ihrer Kleider geringer war als die Miete für acht Wochen, und damit war das weitere Vorgehen klar. Um drei Uhr morgens schlichen sie sich in aller Stille aus dem Haus, hinterließen die Schlüssel auf dem Tisch an der Haustür und verbrachten den Rest der Nacht im Regent’s Park. Es war eine schöne Septembernacht, und nachdem sie sich ein wenig Schlaf gegönnt hatten, traten sie beschwingten Schrittes den Weg zur Arbeit an und beglückwünschten sich zu einem erstklassigen Plan und seiner gelungenen Umsetzung. Sie überlegten, dass sie diesen modus vivendi ja durchaus beibehalten könnten, und ärgerten sich, was sie doch für Dummköpfe gewesen waren, diesem Drachen von Vermieterin überhaupt je Miete gezahlt zu haben.
Jimmy machte eine Ausbildung zum Architekten und Mike war Bauingenieur. Beide hatten Stellen bei den besten Firmen Londons (damals absolvierte man die Ausbildung in diesen Berufen noch im alten System, als Lehrling, und ging nicht aufs College). Sie konnten sich zwar in öffentlichen Toiletten waschen und rasieren, aber sie konnten sich nicht umziehen (denn sie hatten ja keine Kleider zum Wechseln) und ein gehobenes Londoner Unternehmen tolerierte nicht, dass seine Angestellten Tag für Tag in Herbstlaub gekleidet zur Arbeit erschienen! Nach etwa zwei Wochen beschlossen sie, dass ein neuer Plan geschmiedet werden müsse. Leider mussten sich beide noch ihre neue Garderobe zulegen und so war das Geld sehr knapp.
Ein drittes Bier wurde bestellt und wir erörterten das Problem. Jimmy fragte: »Gibt es nicht vielleicht einen Heizungskeller oder so etwas im Schwesternwohnheim, wo wir für eine Weile kampieren könnten?«
Alte Freunde sind nun mal alte Freunde. Ich dachte überhaupt nicht über das Risiko nach, das ich einging. Ich sagte: »Ja, so etwas gibt es, wenn auch keinen Heizungskeller. Es gibt aber einen Trockenraum unter dem Dach. Dort stehen die Wassertanks und die Wäsche wird dort zum Trocknen aufgehängt. Ich glaube, es gibt auch ein Waschbecken dort.«
Ihre Augen begannen zu leuchten. Ein Waschbecken! Sie konnten sich ganz bequem waschen und rasieren!
»Soweit ich weiß«, fuhr ich fort, »wird er nur am Tag benutzt – nachts nicht. Es gibt eine Feuerleiter, die auf der Rückseite des Gebäudes nach oben führt, und ich schätze, dass ein Fenster oder eine Tür vom Trockenraum hinaus auf die Feuerleiter führt. Wahrscheinlich ist abgeschlossen, aber wenn ich für euch aufschließen würde, könntet ihr herein. Kommt, wir gehen mal nachschauen.«
Wir tranken noch ein Bier oder zwei, bevor wir zum Wohnheim in der City Road aufbrachen. Die Jungs gingen nach hinten zur Feuerleiter und ich trat durch die Haustür ein. Ich ging gleich zum Trockenraum und fand heraus, dass sich die Schiebefenster leicht von innen öffnen ließen. Ich gab meinen Freunden unten ein Zeichen und einer nach dem anderen kam die Eisenleiter herauf. Es war keine Treppe, sondern wirklich nur eine Leiter, die an der Mauer angebracht war, und der Trockenraum lag im sechsten Stock. Unter normalen Umständen hätten einem
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