Call the Midwife - Ruf des Lebens: Eine wahre Geschichte aus dem Londoner East End
Ich hatte nur ein halbes Weihnachtsmittagessen im Magen und seitdem nichts gegessen. Schnaps hätte mich umgehauen, also wählte ich ein Guinness und eine Hackfleischpastete. Ich wollte mich wirklich nicht länger aufhalten. Die Entbindung zu Weihnachten war eine wunderbare Erfahrung gewesen, doch nach einer Party stand mir nicht der Sinn. Es war auch schön gewesen, die Verwandtschaft im Hintergrund zu hören, doch von all diesen rundlichen Tanten mit ihren Papierhütchen und ihrem Schluckauf und den dazugehörigen schwitzenden Onkeln mit rotem Gesicht umgeben zu sein, ertrug ich jetzt nicht. Ich wollte nur allein sein.
Nach der Hitze des Entbindungszimmers fuhr mir die Kälte draußen auf der Straße wie ein Messer in die Glieder. Es war eine wolkenlose Nacht, die Sterne schimmerten hell. Es gab damals nur wenig Straßenbeleuchtung, also waren es tatsächlich die Sterne, die alles beleuchteten. Über allem lag ein strenger Frost in all seiner Schönheit. Reif bedeckte die schwarzen Pflastersteine, die Mauern und sogar mein Fahrrad. Ich zitterte und befand, dass ich kräftig in die Pedale treten musste, um mich warm zu halten.
Nur ein, zwei Meilen vom Nonnatus House entfernt bog ich aus einem plötzlichen Impuls heraus rechts in die West Ferry Road und fuhr weiter zur Isle of Dogs. Wenn man ganz um die Insel fahren will, bis man wieder zur East India Dock Road zurückgelangt, ist es eine sieben oder acht Meilen lange Strecke und ich kann nicht erklären, was mich dazu veranlasste.
Niemand war unterwegs. Die Docks waren geschlossen und die Schiffe lagen still vor Anker. Das Plätschern des Wassers war das einzige Geräusch, das ich hörte, während ich über die West Ferry Bridge radelte. Auf der Insel gab es keine Lichter außer den Sternen und den Kerzen der Weihnachtsbäume in vielen Häusern. Die breite, majestätische Themse floss zu meiner Rechten und hütete ihre unergründlichen Geheimnisse. Ich fuhr langsamer, als hätte ich Angst, den Zauber zu zerstören. Als ich die Kurve Richtung Westen einschlug, ging der Mond auf und eine silberne Straße glitzerte von Greenwich her über den Fluss bis zu meinen Füßen, so schien es mir zumindest. Ich musste anhalten. Es sah aus, als hätte ich auf versilberten Füßen von einem Ufer zum anderen über die Themse gehen können.
Meine Gedanken schimmerten unstet wie das Mondlicht auf dem Wasser. Was geschah mit mir? Warum nahm mich die Arbeit so sehr ein? Und vor allem, warum war ich von den Schwestern so sehr ergriffen? Ich erinnerte mich an meine herablassende Reaktion auf die Krippe in der Kirche gerade einmal vierundzwanzig Stunden zuvor und an die stille Schönheit von Schwester Bernadettes Gesicht, während sie im weichen Licht der Flammen ihr Stundengebet las. Ich brachte beides nicht zusammen. Ich verstand es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich es nicht gering schätzen konnte.
Jimmy
»Ist da Jenny Lee? Wo zum Teufel hast du die ganze Zeit gesteckt? Wir haben ja monatelang nichts von dir gehört. Ich musste deine Mutter fragen, um rauszufinden, wo du bist. Sie hat mir gesagt, du wärst Hebamme in einem Kloster. Ich musste ihr vorsichtig erklären, dass Nonnen es nicht tun und dass sie sich daher irren muss, aber sie wollte mir nicht zuhören. Was? Du bist da tatsächlich? Du bist doch verrückt! Ich hab immer schon gesagt, dass du irgendwo ne Schraube locker hast. Was? Du kannst jetzt nicht reden? Warum nicht? Das Haustelefon ist werdenden Vätern vorbehalten! Jetzt mach keine dummen Witze. Na gut, na gut! Ich leg ja schon auf, aber nur wenn du einverstanden bist, dass du an deinem freien Abend im Plasterer’s Arms zu uns stößt. Donnerstag? Okay, dann ist das geritzt. Komm nicht zu spät.«
Der gute Jimmy! Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang. Alte Freundschaften sind die besten und Freunde aus der Kindheit sind etwas ganz Besonderes. Man wächst zusammen auf und man kennt voneinander die guten und die schlechten Seiten. Soweit ich mich zurückerinnern kann, hatten wir zusammen gespielt, dann waren wir von zu Hause ausgezogen und unserer eigenen Wege gegangen, um uns später in London wieder zu begegnen. Jimmy und seine Freunde kamen zu allen Partys und Tanzabenden, die in den verschiedenen Schwesternwohnheimen stattfanden, mit denen ich zu tun hatte, und wenn ich Zeit hatte, kam ich mit, wenn er sich mit seinen Studienfreunden in diesem oder jenem Pub im West End traf. Es war ein vortreffliches Arrangement, denn so lernten sie
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