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Callgirl

Callgirl

Titel: Callgirl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Angell
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ein »echtes« Date – Irene hatte mich verkuppelt -, und wir gingen in Chinatown zum Essen, Suppe und Dun-Dun-Nudeln. Hinterher auf dem Heimweg fuhren wir die große, hell erleuchtete und ein bisschen unheimliche Kneeland Street entlang, wo an jeder Straßenlampe, an jeder Hausecke ein Mädchen steht. Anstatt einfach dankbar zu sein, dass ich dort nicht stehen musste, empfand ich eine Art Überlegenheit, weil ich es nicht nötig hatte. Peachs Agentur zog vielleicht nicht die Spitzenpolitiker von Boston oder die attraktivsten Hollywoodschauspieler oder die mächtigsten Konzernbosse aus Silicon-Valley an, aber ein oder zwei Stufen darunter war es auch sehr nett.
    Nun, ich bin nicht stolz auf dieses Gefühl, aber es war eindeutig da.
    Irgendwann Ende März schmolz schließlich der Schnee, woraufhin alle hier in der Gegend grundsätzlich sagen: »Na, wenn das mal so bleibt. Wir hatten schon öfter Schneestürme im April.« Das ist ein sehr beliebter Spruch hier in New England, auch wenn dieser Schneesturm genau genommen eine Ausnahme war, die sich vor ewigen Zeiten ereignet und seither nicht wiederholt hat. Die Semesterzwischenprüfungen kamen und gingen, und ich traf die ganze Woche keine Kunden, weil ich mich konzentrieren wollte. Als ich mich danach wieder zurückmeldete, hatte Peach drei oder vier Nächte keinen Auftrag für mich. Wenn das passierte, fragte ich mich jedes Mal, ob es Absicht war oder nicht.
    Ich ging in den Fitnessklub, schwamm 25 Bahnen und verbrachte weitere 15 Minuten damit, selig mit geschlossenen Augen im Whirlpool zu liegen, als Peach anrief. Das Handy zeigte einen Anruf in Abwesenheit, als ich es aus dem Spind holte, und ich rief sie sofort zurück. »Was ist los?«
    »Oh, Jen, ich dachte, du solltest es von mir persönlich erfahren«, Peach ist gern etwas dramatisch. »Bill Francis ist gestorben.«

    Ich kramte in meiner Erinnerung. »Bill Francis?« Dann fiel es mir wieder ein: einer von Peachs Stammkunden. Ich hatte ihn gelegentlich getroffen; er lebte in Beacon Hill in einem der Häuser, von denen die Fotografen Ansichtskarten machen. Ein netter Mann, wenn ich mich recht erinnerte. Unscheinbar. Wenn man es sich recht überlegte, galt das für die meisten Kunden. Die wirklich wundervollen und die wirklich schrecklichen sind die Ausnahme.
    »Ich wollte nur nicht, dass du dich aufregst«, fuhr Peach fort.
    »Wie ist er gestorben?«, fragte ich. Sie konnte es kaum erwarten, mir davon zu erzählen. So viel war klar.
    »Nach dem, was ich gehört habe, hat man bei ihm eingebrochen. Er hat die Einbrecher überrascht und ist dabei angeblich verletzt worden. Aber ich weiß nicht, woran er gestorben ist, ich weiß nur, dass er tot ist.«
    Ich fragte sie nicht, wie sie an diese Information gekommen war. »Das tut mir Leid, Peach. Du fühlst dich bestimmt schrecklich.« Und nicht nur, weil eine regelmäßige Einnahmequelle versiegte; Peach unterhielt sich oft mehrmals in der Woche sehr lange mit ihren Stammkunden. Sie lernte sie kennen. Und einige wuchsen ihr ans Herz und bedeuteten ihr etwas.
    Mir hatte Bill Francis allerdings nichts bedeutet, und deshalb war ich überrascht, dass ich mitten in der Nacht aufwachte, weinend und schweißgebadet, immer noch eingehüllt in Träume vom Tod wie in ein Leichentuch. Die Tränen liefen mir übers Gesicht, und obwohl ich jede Lampe in der Wohnung einschaltete, heißen Tee trank und einige Latenight-Sendungen guckte, verschwanden die Träume nicht, sondern warteten in den verborgenen Winkeln meines Bewusstseins darauf, dass ich mich wieder hinlegte, damit sie neuerlich Besitz von mir ergreifen konnten.
    Ich saß da, schaukelte rhythmisch vor und zurück, wie um mich selbst in den Schlaf zu wiegen. Die Tränen liefen mir weiter übers Gesicht, und ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich
konnte mich kaum an diesen Mann erinnern. Ich hatte im ersten Moment nicht mal gewusst, wohin ich seinen Namen stecken sollte. Ich konnte mich an keine lustigen Begebenheiten mit ihm erinnern, und auch aus unseren Gesprächen war mir nichts Einprägsames im Gedächtnis geblieben. Er war bloß ein Kunde . Und trotzdem konnte ich nicht aufhören zu weinen.
    Ich träumte nicht von Bill im Besonderen: Ich träumte von Verlust und Trauer, von jedem Menschen, der mir je etwas bedeutet hatte und nicht mehr bei mir war, von meinen Ängsten vor der Zukunft.
    Am nächsten Tag unterrichtete ich, wie könnte es anders sein, meinen Kurs »Über Tod und Sterben«.
    Also sprach ich von meinem

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