Callgirl
würden. Zu diesem Schutz gehörten auch die Fesseln. Wir ließen nicht zu, dass sie sich selbst verletzten.«
Eine andere Stimme mischte sich ein, und ich ließ die Gruppe allein weiterdiskutieren. Meine Gedanken schweiften ab, wanderten zu der Nacht zurück, in der ich schließlich akzeptierte, dass meine Mutter sterben würde, in der ich die grausame Wahrheit ihres Krebsleidens nicht länger leugnen konnte. Das war, bevor ich Peter kennen lernte. Ich war damals mit einem anderen Mann zusammen. Ich erinnere mich, wie wir beide im Bett saßen; ich schrie und weinte, hin und her gerissen zwischen Zorn und Kummer, und mein Freund hielt mich auf dem Bett fest, während ich tobte. Ich weiß nicht, was ich in dieser Nacht getan hätte, wenn er nicht da gewesen wäre. Ich fühlte mich schrecklich, aber ich fühlte mich auch sicher. Ich wusste, er würde dafür sorgen, dass ich nicht zu weit ging. Ich weiß noch, dass ich dachte: Er wird nicht zulassen, dass ich irgendwelche Dummheiten mache. Allein hätte ich es vielleicht getan. Aber so konnte ich die Krise durchstehen, und er hielt mich fest, während ich gegen ihn, gegen meine Mutter, gegen das Schicksal und gegen Gott wütete … und es überlebte. Ja, ich konnte ganz bestimmt verstehen, dass äußere Fesseln manchmal notwendig waren.
Ich kehrte in meinen Körper zurück und hörte zu, was die Studenten um mich herum sagten. »Hör mal, es ist ein grundlegendes Menschenrecht, dass man nicht ohne ordentliches Gerichtsverfahren eingesperrt wird. Menschen in Fesseln zu legen, verstößt gegen dieses elementare Recht.«
»Wenn Menschen ins Krankenhaus kommen, wird ständig über ihren Kopf hinweg entschieden, und häufig nicht so, wie sie es selbst gewollt hätten. Was, wenn …«
Ich unterbrach die Diskussion. »Okay, Schluss für heute«, rief
ich und machte als alter Sportfan ein Aus-Zeichen mit den Händen. »Schreiben Sie für den Kurs am Mittwoch bitte einen kurzen Aufsatz über den Einsatz von Fixierungsmitteln bei psychisch Kranken in einer ungeduldigen Umwelt. Sie können Ihre eigene Meinung verfechten, aber Sie sollten auch einige Argumente dafür anführen und sich nicht nur auf Ihr Bauchgefühl berufen.«
Sie strömten nach draußen, einige immer noch in eifrige Diskussionen vertieft. Es war ein gutes Gefühl, einen Beitrag zu diesem Engagement geleistet zu haben. Ich hatte irgendwas in ihren Köpfen oder Herzen angestoßen, das sie leidenschaftlich reagieren ließ, und das auch noch – Wunder über Wunder – kurz vor Ende des Semesters!
Was mich betraf, bekam ich Kopfschmerzen.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und fing an, Papiere zu sortieren, legte meine Notizen beiseite. Fesseln, dachte ich … Wie man sie bei psychisch Kranken verwendete, wusste ich vielleicht nur in der Theorie, aber ansonsten wusste ich durch meine Nebenbeschäftigung ganz gut darüber Bescheid.
Wenn Kunden auf Handschellen standen, fand ich das immer problematisch. Fesseln passen nicht zu meinem Verständnis von Sicherheit beim Sex. Tatsächlich weigerte ich mich kategorisch, mich fesseln oder in Handschellen legen zu lassen, wenn ich den Kunden nicht kannte. Gut kannte. Extrem gut kannte.
Ich lockerte die Regel bei Stammkunden, wenn ich Vertrauen zu ihnen gefasst hatte und überzeugt war, dass sie sofort aufhören würden, wenn ich Stopp sagte, dass sie sich an die vorher festgelegten Grenzen halten würden.
Ich glaube, dass Fesselspiele im Sexleben jedes Menschen eine Rolle spielen, und sei es nur in der Fantasie. Und die Kunden von Callgirls bilden da keine Ausnahme. Im Double Tree Suites Hotel am Storrow Drive gibt es ein Foyer, das in Schwindel erregende Höhe bis hinauf zum obersten Stockwerk reicht. Zu den Zimmern
gelangt man mit einem gläsernen Fahrstuhl. Von diesem Fahrstuhl aus kann man alles sehen, woran man vorbeifährt – Gesellschaftsräume, Wartebereiche und ab und zu eine offene Tür zu einem Hotelzimmer.
Doch so wie der Fahrgast alles sehen kann, wird er selbst natürlich auch gesehen.
Einer meiner Stammkunden machte einmal im Monat eine Geschäftsreise nach Boston und stieg dann immer im Double Tree ab. Er hatte die Angewohnheit, sich in der Lobby mit mir zu treffen und mir dort sofort Handschellen anzulegen. Es erregte ihn, dies an einem öffentlichen Platz und ohne ein einziges Wort zu tun. Er ging dann neben mir durch die Lobby, während ich meine Hände schüchtern vor mir gefaltet hielt. Einem flüchtigen Beobachter wären die Handschellen gar
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