Callgirl
möchte …«
Dies hier war etwas völlig anderes. Und ich fühlte es in meiner Seele. Nicht einmal Barry aus der Beacon Street hatte meiner Seele etwas anhaben können. Dieser Klient hatte sie berührt. Ich frage mich heute noch, wie es ihm geht. Ich frage mich, ob er immer noch Callgirls bestellt, die ihre Lippen vor einem Spiegel spitzen und ihm versichern, dass Mami ihren kleinen Jungen wirklich lieb hat. Und ich spreche ein Gebet. Es kann ja nicht schaden.
In dieser Nacht fiel es mir schwer, mich auf die Zusammenstellung der Literaturliste für meinen neuen Kurs zu konzentrieren. Nach einer Stunde und zwei Gläsern Côte du Rhône gab ich auf und surfte einfach im Internet. Ich suchte nicht mehr nach Büchern, sondern nur noch nach etwas, das mich von dem traurigen kleinen Mann in Chestnut Hill ablenkte. Aber es gelang mir nicht wirklich, ihn aus meinen Gedanken zu vertreiben.
Vor kurzem fragte mich jemand nach meiner Zeit bei Peach: »Aber die wollen bestimmt, dass du ganz abartige Sachen machst, oder?« Das ist eine Standardfrage. Falls ich sie beantworte (wenn ich dazu Lust haben), rede ich nie über den Mann
in Chestnut Hill. Ich erzähle nie, wie ich mich immer noch fühle, wenn ich an seine Einsamkeit und seinen Schmerz denke.
Was die abartigen Bedürfnisse der übrigen Kunden angeht … nun ja, das hängt natürlich davon ab, wie man »abartig« definiert. Ich finde es zum Beispiel abartig, dass man Menschen erlaubt, Waffen bei sich zu Hause zu verwahren, mit denen täglich zahllose Kinder getötet werden. Nach diesen Maßstäben ist ein Mann, der einen BH trägt, nicht besonders abartig.
Wie gesagt, es ist alles eine Frage der Definition.
Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass man in diesem Gewerbe auf eine Reihe von sexuellen Vorlieben und Fantasien trifft, die man vermutlich nicht aus erster Hand erleben würde, wenn man nur wenige Sexualpartner hätte. Ich denke, es hängt zum Teil damit zusammen, dass die Männer gegenüber einem Callgirl weniger Hemmungen haben, auch ungewöhnliche Fantasien zum Ausdruck zu bringen. Hier können sie gefahrlos über ihre Vorlieben sprechen. Ein Callgirl reagiert nicht schockiert oder verstört auf ausgefallene Bedürfnisse. Sie wird den Mann deswegen nicht beschimpfen oder zurückweisen oder ihm Schuldgefühle machen. Stattdessen wird sie ihm sogar sagen, wie aufregend sie ihn findet. Cool.
Ein Callgirl kann ungewöhnliche Wünsche nicht benutzen, um den Wert der Beziehung in Frage zu stellen. Dagegen stößt der Mann bei einer neuen Freundin leicht auf Missbilligung, wenn er ausgefallene Bedürfnisse äußert: »Du willst was machen? Igitt.«
Ich glaube, dass einige Männer genau aus diesem Grund bei einem Escort-Service anrufen: Sie möchten die verbotenen Fantasien ausagieren, diejenige Seite ihrer Persönlichkeit ausleben, die sie vor Kollegen, Ehefrauen, Freundinnen oder Nachbarn verbergen. Bei ihrer festen Partnerin begnügen sie sich vielleicht mit Blümchensex, und zu uns kommen sie, wenn sie etwas Gewagteres ausprobieren möchten, das stärker vom Mainstream abweicht.
Dieser Aspekt des Ganzen erinnert mich an bisschen an eine Unterhaltung, die in dem Film Reine Nervensache zwischen Robert de Niro, der einen Mafiaboss mit Panikattacken spielt, und seinem Therapeuten Billy stattfindet. De Niro hat gerade erzählt, dass er bei seiner Freundin »nicht konnte«.
»Sie haben also Eheprobleme?«, fragt Crystal.
»Nein, meine Ehe ist in Ordnung.«
»Warum haben Sie dann eine Freundin?«
»Mit ihr mache ich Sachen, die ich mit meiner Frau nicht machen kann.«
Crystal wirkt aufrichtig erstaunt. »Was machen Sie mit Ihrer Freundin, das Sie mit Ihrer Frau nicht machen können?«
Die Frage scheint den Mafioso zu schockieren. »Hey«, sagt er drohend, »das sind die Lippen, die meinen Kindern abends einen Gutenachtkuss geben. Alles klar?«
Anscheinend hatte ich manchmal mit Männern zu tun, die ähnlich dachten, mit Männern, die etwas spielen oder ausprobieren wollten, das sie ihren Partnerinnen nicht erzählen konnten – weil sie in ihrem tiefsten Innern nicht wollten, dass die Frau, mit der sie zusammenlebten, solche »schmutzigen Sachen« macht. Das Callgirl als Schlampe. Es ist nur eine weitere Variante des altbekannten Denkschemas: Männer wollen sexuelle Erfahrungen machen, sie wollen sich mit promiskuösen und sexuell aufreizenden Frauen treffen, aber wenn es ans Heiraten geht, dann heißt es: Halt stopp! Das ist etwas anderes. Die Mutter
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