Calling Crystal
Flug und wollt zeitig ins Bett gehen. Ich muss morgen ganz früh raus, wir sehen uns dann also irgendwann.«
Ich sorgte dafür, dass die Tür mit einem lauten Knall hinter mir zufiel. Einen Vorteil hatte es, dass ich mir die Wohnung jetzt wieder mit jemandem teilte – ich konnte meine Wutausbrüche wirkungsvoll in Szene setzen.
Ich ging nicht weit. Ich setzte mich an der Vaporetto-Haltestelle nahe unserer Wohnung auf die Kante des Holzstegs, den wir bei Hochwasser benutzten. Im Spätherbst und Winter mussten wir oft durch Pfützen waten, weil das Wasser die Stadt zweimal am Tag überschwemmte. Es gab ein Signalsystem bei Hochwasser oder acqua alta , wie wir es nannten, aber gerade herrschte keine Flut und der Steg war leer. Ein Straßenverkäufer warf für eine Touristengruppe, die auf dem Weg ins Restaurant war, kleine Leuchtstäbe in dieHöhe; für einen kurzen Moment hingen sie in der Luft, bevor sie wieder zu Boden fielen – ein winziges Feuerwerk. Von der Adria wehte eine leichte Brise herüber und trug den Geruch von Diesel und Salzwasser mit sich. An der Anlegeplattform herrschte ein reges Kommen und Gehen von Booten. In meiner Vorstellung waren sie die Nadeln, die die Stadtränder zusammenhefteten. Venedig ist ein guter Ort, um irgendwo alleine zu verweilen; es passiert immer irgendwas und niemand wundert sich, warum man stehen bleibt und einfach nur schaut. Es ist eine Stadt, die es gewohnt ist, auf dem Präsentierteller zu sitzen.
Ich ließ das Gespräch vom Abendbrottisch Revue passieren. Ich war noch immer gekränkt und mein Hirn fabrizierte alle möglichen megatheatralischen Retourkutschen, angefangen bei meiner Weigerung, an der Hochzeit teilzunehmen, bis hin zu dem Entschluss, nie wieder mit meiner Familie zu sprechen. Aber der vernünftige Teil von mir wusste, dass diese Gedanken so etwas wie diese garstigen Mails waren, die man im Eifer des Gefechts rausschickte und später dann bereute. Niemand wollte mir schaden, sie betrachteten die Dinge einfach aus einem anderen Blickwinkel und glaubten zu wissen, was das Beste für mich war. Ich benahm mich wie ein Teenager, und auch wenn ich das im Grunde genommen noch war, besaß ich nicht mehr das Vorrecht, meinen Launen freien Lauf lassen zu können. Man erwartete mehr von mir – ich erwartete mehr von mir.
Aber das bedeutete nicht, dass sie im Recht waren.Es stimmte, wenn ich sagte, dass meine Zukunft anders als ihre aussah. In der Savant-Welt gab es für mich keine attraktiven Optionen, deshalb würde ich meinen eigenen Weg einschlagen müssen. Und wenn dieser im Widerspruch zum Savant-Leben stand, dann … tja, dann musste ich mir überlegen, wie sich beides vereinbaren ließ. Möglichkeiten wie diese eröffneten sich einem nicht jeden Tag und sie warteten sicher nicht so lange, bis die Hochzeit meiner Schwester vorüber war. Ich stand auf, ruhiger jetzt, da ich eine Entscheidung getroffen hatte. Diamond, Trace und Xav wären total dagegen, aber ich würde diese Fotos machen lassen und dann weitersehen.
Kapitel 5
In dem Bewusstsein, dass die Dinge zwischen uns nicht gerade zum Besten standen, versuchte Xav in den folgenden zwei Tagen, nett zu mir zu sein. Doch ich machte es ihm nicht leicht, indem ich einfach verschwand – entweder ging ich zur Arbeit oder Joggen. Trotzdem war ich gerührt, als er einen kleinen Strauß Veilchen in meinem Schlafzimmer hinterließ, für den ihm irgendein ausgebuffter Straßenhändler zweifellos viel zu viel Geld abgeknöpft hatte. Und doch, die Geste zählte, auch wenn er es nur tat, damit ich seinem Bruder nicht die Hochzeit verdarb, indem ich mich bis zum Tag des großen Ereignisses mit ihm zankte.
Das erste Mal, dass wir wieder Zeit miteinander verbrachten, war Sonntag früh, als ich im Morgengrauen in sein Zimmer ging, um ihn um fünf Uhr zu wecken. Bei dieser Gelegenheit stellte ich fest, dass er zu den Leuten zählte, die sich mit dem Aufstehen schwertaten, und da ich mir so etwas schon gedachte hatte, drückte ich ihm einen kalten Waschlappen ins Gesicht.
»Hrrmph!« Er schleuderte den Waschlappen in eine Zimmerecke und vergrub seinen Kopf unter dem Kissen. Normalerweise hätte ich versucht, die gebräunten Arme und seinen Waschbrettbauch zu ignorieren, aber hey, ich habe Hormone im Blut wie jedes andere Mädchen auch. Es gibt Dinge im Leben, die äußerst sehenswert sind.
»Raus aus den Federn, Zuckerpuppe. Hollywood wartet.«
Seine Antwort war ein Grunzen.
»Na gut, dann gehe ich eben allein. Wie
Weitere Kostenlose Bücher