Calling Crystal
am Sonntag.« Lily fegte hinaus, die Tasche schaukelte munter an ihrer Hand hin und her.
Rocco kam aus dem Atelier gehoppelt, verheddert in ein langes Stück Goldborte. Signora Carriera schnalzte mit der Zunge und befreite ihn.
»Es ist höchste Zeit, dass dieser Hund etwas zu fressen bekommt«, sagte sie auf Italienisch. »Würdest du ihn für mich nach Hause bringen und füttern, Crystal? Ich werde besser nachsehen, was für eine Unordnung er da drinnen veranstaltet hat, bevor ich das Geschäft zuschließe.«
»Natürlich, Signora. Komm, Xav. Wir gehen.« Ich holte meinen Mantel und befestigte die Leine an Roccos Halsband.
»Gute Nacht, Signora!«, rief Xav, als wir den Laden verließen.
» Arrivederci , Xav!« Die Tür fiel hinter uns ins Schloss und die Fensterläden klappten zu.
»Das ist ja ein Wahnsinnsort zum Arbeiten.« Xav schlug die vollkommen falsche Richtung ein. Rocco und ich marschierten ohne ihn los, doch dann bemerkte er schließlich, dass wir nicht bei ihm waren.
»Ich bin mir sicher, wir sind von da gekommen«, sagte er, als er uns eingeholt hatte, und wies auf die andere Seite der Brücke.
»Ja, mag sein, aber das ist nicht der schnellste Weg nach Hause. Folge mir.«
Meine Begabung hatte sich in den ersten paar Monaten in Venedig als recht nützlich erwiesen, denn das Straßennetz war äußerst verwirrend. Und trotzdem war ich bei den vielen unerwarteten Sackgassen oder den Straßen, die an einem Kanal endeten und einen daran hinderten, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, ziemlich aufgeschmissen gewesen; nur entsprechende Ortskenntnisse hatten dieses Problem lösenkönnen. Viele Straßen hier sind so schmal, dass man im Gänsemarsch gehen muss, aber in den Stadtplänen sind sie als Hauptstraßen markiert. Verständlicherweise zögerten die Touristen, eine Gasse entlangzugehen, die in jeder anderen Stadt in einem Hinterhof und am Müllplatz geendet hätte. Es freute mich insgeheim, Xav zu zeigen, wie gut ich mich auskannte, indem wir uns durch die Straßen schlängelten, ohne uns auch nur ein Mal zu verlaufen. Als wir zur Accademia-Brücke kamen – die am südlichsten gelegene der drei Brücken, welche den Canale Grande überspannen –, blieben wir am Scheitelpunkt stehen, um die Aussicht zu bewundern. Obwohl ich schon über ein Jahr in Venedig lebte, hielt ich hier immer an, um mir ins Gedächtnis zu rufen, in was für einer unglaublichen Stadt ich zu Hause war.
»Diese Stadt ist extrem.« Xav lehnte sich über die Brüstung und beobachtete, wie die Gondeln mit einer japanischen Touristengruppe unter der Brücke hindurchfuhren. Ich stand neben ihm. Ich liebte diesen Ausblick auf die Kirche Santa Maria della Salute, die mein tägliches Joggingziel war. Sie thronte da am Ende des Canale Grande wie ein dickes fettes Fragezeichen. Während Venedig überwiegend horizontal ausgerichtet war, mit den langgestreckten, flachen Inseln und den sich windenden Flussläufen, wurde diese Aussicht von der Vertikalen bestimmt: aufragende Paläste, die sich direkt aus dem jadegrünen Wasser erhoben, die rot-weiß gestreiften Anlegepfähle, die man in den Lagunenschlamm getrieben hatte. Ich dachte schon lange, dass dieserBlick ein gutes Basismotiv für ein abstraktes Stoffmuster abgeben würde – nur ein Hauch venezianischer Farben und Linien. Ich sollte mal einen Entwurf zeichnen und ihn der Signora zeigen.
»Was hat eigentlich der Arzt gesagt?« Xav trommelte unruhig auf der Brüstung herum.
»Ich war nicht da.« Ich zog Rocco von einer am Boden liegenden Eiscremetüte weg und ging in Richtung Brückenende. »Mir fehlt nichts.«
»Weißt du, meine Schöne, du lässt einen Jungen zu drastischen Mitteln greifen.«
Diesmal überhörte ich den Kosenamen einfach; Lily und die Signora hatten diesbezüglich einen Sinneswandel bei mir bewirkt. »Was willst du denn machen? Es ist mein Körper.«
»Ich könnte es deiner Schwester erzählen.«
»Und was ist mit der ärztlichen Schweigepflicht? Du hast vielleicht den Spinnensinn, wie du’s nennst, aber damit einher geht auch eine große Verantwortung – ich hab Spiderman gesehen.«
»Rocco, fass! Jemand muss sie zur Vernunft bringen.«
Der Beagle blickte zu Xav hoch, verwundert, seinen Namen zu hören.
»Halte ihn raus aus der Sache. Das ist nicht fair.«
»Ich meine mich erinnern zu können, dass mir jemand vor seiner Abreise aus Denver versprochen hat, einen Arzt aufzusuchen.«
»Na ja, ich hab meine Meinung eben geändert. Lass gut
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