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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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unserer Umgebung ab. Andererseits – für Jäger und Gejagte waren das kaum kleinere Dramen, für sie ging es um Leben und Tod. Ich war nur Außenstehende, eine Müßiggängerin, für sie hingegen war es bitterer Ernst.
    Dann sauste ein Kolibri um die Hausecke und stürzte sich in die trompetenartige Blüte der nächsten Lilie, die in der Hitze den Kopf hängen ließ. Offensichtlich gefiel es ihm darin aber nicht, denn er kam sofort rückwärts wieder heraus und erkundete die nächste. Hingerissen sah ich zu, aus nur wenigen Schritten Entfernung, nah genug, um das wütende, leise Sirren der Flügel zu hören, das so schlecht zu der schmucken Erscheinung und dem sonst so heiteren Wesen passte. Der Kolibri zögerte am Eingang einer Blüte, wandte sich um und erspähte mich. Einen Moment lang schwebte er in der Luft, dann hielt er direkt auf mich zu. Ich erstarrte. Eine Handbreit vor meinem Gesicht stoppte er und hing – ich schwöre! – reglos in der Luft. Ich spürte an meiner Stirn den Lufthauch, der durch die Bewegung der Flügel entstand, und reflexartig schlossen sich meine Augen ganz fest. Ich wünschte so sehr, ich hätte sie offen halten können, doch es war eine natürliche Reaktion, ich konnte nichts dagegen machen. Als ich die Augen wieder aufschlug, flog der Vogel davon. Er war nicht größer als eine Pekannuss mit Flügeln. Ob es Ärger war, der ihn antrieb, oder Neugier – wer wollte das wissen, jedenfalls kümmerte es ihn nicht im Geringsten, dass ein leichter Schlag meiner Hand gereicht hätte, ihn zu zerquetschen.
    Einmal hatte ich beobachtet, wie Ajax, Vaters bester Hund, in eine Auseinandersetzung mit einem Kolibri geriet und verlor. Der Kolibri machte ihn völlig verrückt, indem er immer wieder im Sturzflug auf ihn hinunterflog, bis Ajax sich schließlich mit verlegener Miene auf die Veranda vor dem Haus zurückzog. (Ein Hund kann tatsächlich verlegen aussehen. Ajax drehte in solchen Momenten den Kopf ganz schnell nach hinten und fing an, sich am Hinterteil zu lecken, ein sicheres Anzeichen dafür, dass ein Hund versucht, seine wahren Gefühle zu verbergen.)
    Die Haustür ging auf, und Großpapa trat auf die Veranda, eine uralte Ledertasche über der Schulter, ein Schmetterlingsnetz in der einen Hand und seinen Gehstock aus Malacca-Holz in der anderen.
    »Guten Morgen, Calpurnia«, sagte er. Er wusste also tatsächlich, wie ich hieß.
    »Guten Morgen, Großpapa.«
    »Was hast du da, wenn ich fragen darf?«
    Ich sprang auf. »Das ist mein wissenschaftliches Notizbuch«, sagte ich großartig. »Harry hat es mir geschenkt. Alles, was ich observiere, schreibe ich da hinein. Schau, hier ist meine Liste von heute.«
    Observieren gehörte nicht zu den Wörtern, die ich normalerweise in Gesprächen benutzte, aber ich wollte ihm zeigen, wie ernsthaft ich bei der Sache war. Er stellte seine Tasche ab, und irgendetwas klirrte leise darin. Interessant! Großpapa zog seine Brille hervor und sah sich die Liste an:
     
    Kardinalvögel, Männchen und Weibchen
    ein Kolibri, verschiedene andere Vögel (?)
    Kaninchen, einige
    Katzen, mehrere
    Eidechse, grün
    Insekten, verschiedene
    C.V. Tates Grashüpfer, groß/gelb und klein/grün (dieselbe Spezies)
     
    Großpapa setzte seine Brille wieder ab und tippte auf die Seite. »Ein guter Anfang«, sagte er.
    »Ein Anfang?«, wiederholte ich gekränkt. »Ich dachte, die Liste sei fertig.«
    »Wie alt bist du, Calpurnia?«
    »Zwölf«, sagte ich.
    Er sah mich an.
    »Elf drei Viertel«, platzte ich heraus. »Also so gut wie zwölf. Wirklich. Der Unterschied ist völlig unbedeutend.«
    »Und wie kommst du mit Mr. Darwin und seinen Erkenntnissen voran?«
    »Oh, es ist wundervoll. Doch, wirklich. Natürlich bin ich noch nicht durch. Ich lasse mir Zeit.« Ehrlich gesagt hatte ich das erste Kapitel mehrmals gelesen und als ziemlich schwere Kost empfunden. Ich hatte dann einen Teil überschlagen und mit dem Abschnitt »Natürliche Auslese« weitergemacht. Aber auch da hatte ich mit der Sprache zu kämpfen.
    Großpapa sah mich ernst an. »Mr. Darwin hat auch nicht für eine Leserschaft aus Elf-drei-Viertel-fast-Zwölfjährigen geschrieben. Aber vielleicht können wir uns ja gelegentlich ausführlicher über seine Ideen unterhalten. Möchtest du das?«
    »Ja«, sagte ich. »Ja, Sir, gerne.«
    »Ich will zum Fluss, Insekten sammeln. Heute wohl von der Ordnung Odonata. Also Libellen und Seejungfern. Magst du mich begleiten?«
    »Ja, bitte.«
    »Dann sollten wir dein Notizbuch

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