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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Großpapa darüber gesprochen?«, wollte Harry wissen.
    »Ich hab mich nicht getraut. Er glaubt fest daran, dass von einer Art immer die Stärksten überleben, also die, die durch Anpassung an die jeweiligen Bedingungen am besten geeignet sind. Aber ich fürchte, diese Truthähne eignen sich nur als Erntedankfestmahl.«
     
    Obwohl fast jeder in der Familie ihn warnte, verbrachte Travis eher mehr Zeit mit seinen Truthähnen als weniger.
    Eines Nachmittags ging ich zu Mutter, die im Wohnzimmer saß und nähte. »Ich habe eine großartige Idee«, sagte ich. »Wir könnten doch dieses Jahr an Erntedank Schinken essen.«
    »Schinken gibt es Weihnachten«, entgegnete sie, während sie ausgefranste Manschetten in Augenschein nahm.
    »Sicher, aber wir könnten doch auch zweimal Schinken essen. Das würde uns doch nicht umbringen.« Travis hatte auch eine Vorliebe für die jungen Ferkel, doch glücklicherweise hatte in diesem Jahr keines aus den neuen Würfen sich so hervorgetan, dass es sich einen Namen verdient hätte.
    »Wir werden uns nicht das Erntedankessen dadurch verleiden lassen, dass Travis übermäßige Zuneigung zu einem Vogel gefasst hat.« In Haushaltsdingen war Mutter die höchste Instanz; gegen ihr Urteil gab es keine Berufung. Trotzdem rückte ich mit meinem nächsten Vorschlag heraus, auch wenn ich wusste, dass er eher chancenlos war.
    »Und wie wäre es hiermit«, sagte ich. »Wir tauschen unsere Truthähne gegen die von jemand anderem ein. Auf die Weise muss er wenigstens nicht seinen eigenen Vogel essen.«
    Mutter sah mich seufzend an. »Was für Umstände der Junge uns macht! Nun gut, aber es müssten wirklich gleich große Vögel sein, kein Pfund weniger dürfen sie wiegen. Hol ihn her, dann sag ich es ihm.«
    Ich fand Travis im Hühnerhof, wo er bei Reggie und Lavinia und Tom Turkey auf der staubigen Erde saß.
    »Du sollst ins Haus kommen«, sagte ich. »Mutter will mit dir sprechen.«
    »Ist es wegen meiner Vögel?«, fragte er aufgeregt. »Bestimmt ist es wegen der Vögel. Darf ich sie behalten, hat sie das gesagt? Ich darf, stimmt’s?« Er folgte mir ins Haus, dabei quasselte er immer weiter.
    »Travis«, sagte Mutter, »ein Erntedankessen ohne Truthahn, das geht einfach nicht. Aber Callie hatte eine Idee, und ich bin bereit, mich darauf einzulassen. Wir können deine Vögel gegen die von anderen Leuten tauschen – vorausgesetzt, wir finden jemanden, der dazu bereit ist. Aber sie müssten ganz genau so schwer sein wie unsere.«
    »Tauschen? Wie meinst du das?«
    »Na ja, wir geben unsere Vögel anderen Leuten und bekommen dafür ihre.«
    »Aber ich könnte sie da besuchen gehen, ja?«
    »Nein, Liebes, das wäre nicht möglich.«
    »Aber wozu soll das dann gut sein?«, fragte er.
    »Damit wir an Erntedank den Truthahn von jemand anderem essen und nicht deinen. Damit du nicht zusehen musst, wie wir deinen Ronald verspeisen.«
    »Reggie«, verbesserte er sie schniefend.
    »Reggie, meinetwegen. Auf die Weise könntest du an Erntedank mit uns allen essen. Wäre das nicht schön?«
    »Nein!«, sagte er schluchzend.
    »Es reicht, Travis. Bitte putz dir die Nase und fass dich.«
    Ich fragte mich, wieso man ihm die Aufgabe, sich um die Truthähne zu kümmern, nicht wegnahm und ihm stattdessen etwas anderes zu tun gab. Vermutlich hatte das damit zu tun, dass man bei uns eine Aufgabe, die man einmal übernommen hatte, auch zu Ende bringen musste. Die Geburt und der Tod aller möglichen Tiere gehörten zu unserem Alltag, man erwartete von uns – zumindest von den Jungen –, dass wir uns daran gewöhnten. Zartere Empfindungen spielten hierbei keine Rolle; das Leben war ohnehin hart, aber für Tiere auf einer Farm war das Leben um einiges härter. Und vor allem sehr viel kürzer.
    Ich bat meine Brüder um Unterstützung, und gemeinsam suchten wir nach einem Ersatz für unsere Truthähne. Fast jeder im Ort hielt ein paar Hühner, doch Truthähne waren schon seltener, da sie größer waren und oft auch bösartig – abgesehen von Travis’ Vögeln. Wir erkundigten uns bei unseren Klassenkameraden, beim Bürgermeister, bei Alberto, der aus einer Großfamilie mit vielen Brüdern und Schwestern und Cousins und Cousinen am anderen Ende der Stadt stammte. Wir hängten eine kleine, handgeschriebene Nachricht im Büro der Zeitung aus und sorgten dafür, dass der alte Backy Medlin, das größte Klatschmaul der Cotton Gin, wusste, wonach wir suchten. Ich bestach sogar Lamar, zur Post zu gehen und es Postmeister

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