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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Grassel zu sagen. So musste ich den Kerl nicht sehen.
    Der Plan war wirklich großartig, oder doch wenigstens gut. Aber absolut nichts passierte. Als der Tag immer näher kam und Travis immer unglücklicher wurde, ging ich schließlich zu Großpapa in die Bibliothek und erklärte ihm das Problem.
    »Welcher ist noch mal Travis?«, fragte er.
    »Der Zehnjährige. Der, der in letzter Zeit dauernd weint.«
    »Ah, das ist das Problem. Ich dachte schon, er hätte vielleicht Würmer.«
    »Nicht dass ich wüsste. Mutter gibt uns ja auch immer Abführmittel. Großpapa, wir müssen ihm helfen.«
    »Calpurnia, unsere ganze Existenz auf dieser Erde ist ein einziger Kreislauf von Leben und Tod. Das ist eine Tatsache, dagegen lässt sich nichts machen.«
    »Du willst mir nicht helfen«, sagte ich und wandte mich zum Gehen. »Denk doch nur an deine Fledermaus. Wenn du deine Fledermaus an Erntedank essen solltest statt Truthahn, dann würdest du etwas unternehmen.«
    »Calpurnia«, sagte Großpapa, »ist dir die Sache so wichtig?«
    »Mir nicht«, antwortete ich, »aber Travis ist sie wichtig. Und deswegen wohl doch irgendwie auch für mich.«
    »Nun gut.«
     
    Der Schicksalstag stand vor der Tür, und ich ging zu Travis. »Travis«, sagte ich, »ich habe drei Ersatz-Truthähne für dich aufgetrieben. Ich habe einen Mann gefunden, der bereit ist, mit uns zu tauschen. Aber du darfst nicht zugucken. Du musst dich heute Abend von ihnen verabschieden. Es ist besser so, verstehst du?«
    »Nein«, antwortete er jämmerlich. »Ich versteh überhaupt nichts mehr. Es hilft alles nichts.«
    »Wir müssen es so machen«, sagte ich. »Du musst mir vertrauen.«
    Travis saß den ganzen Nachmittag lang im Hühnerhof, bis es dämmerte. Vom Fenster oben im Flur aus konnte ich ihm zusehen. Endlich umarmte er jeden seiner Vögel und presste sein Gesicht tief in ihr Gefieder, dann riss er sich los und rannte ins Haus. Schluchzend lief er an mir vorbei und knallte seine Zimmertür hinter sich zu.
    Am nächsten Morgen sah man vom Fenster aus drei neue Truthähne im Gehege. Die Farbe war nicht dieselbe wie bei unseren, und sie hatten auch weniger Schwanzfedern, so als hätten sie gekämpft, doch Mutter war froh, dass sie anscheinend so groß und schwer waren wie unsere eigenen. Alberto ging schon früh hinaus und schlug ihnen auf dem Hackklotz den Kopf ab, und SanJuanna rupfte und sengte sie. Ich sah die beiden auf der hinteren Veranda, wo sie über den nackten, toten Vögeln die Köpfe zusammensteckten und leise Spanisch miteinander sprachen.
    Mittags durfte Viola sich aussuchen, welchen der drei Vögel sie in den Ofen schieben wollte. SanJuanna und ich saßen in der Vorratskammer und polierten das gute Silber. Dann nahmen wir das rosageblümte Porzellan, dass Mutter von ihrer Mutter geerbt hatte, aus der strohgefüllten Holzkiste und wischten jedes Teil ab. Viola klapperte stundenlang ununterbrochen in der Küche, mit Schnupftabak unter der Lippe. Gewaltige Dampfwolken begleiteten die Entstehung unseres Festessens. Travis zeigte sich den ganzen Tag nicht, und niemand hatte den Mut, ihn zu holen.
    Um sechs Uhr schließlich, als es im ganzen Haus schon verlockend duftete, läutete Viola an der Verandatür ihre Glocke und schlug auf den Gong. Travis kam aus seinem Zimmer und marschierte stumm mit uns anderen ins Esszimmer. Keiner sah ihn an.
    Vater sprach ein Tischgebet, das uns endlos lang erschien, danach zerlegte er den gewaltigen Vogel. Ich lernte derweil das Rosenmuster auf meinem Teller auswendig. Travis hielt den Kopf gesenkt. Er sprach kein Wort, aber er weinte auch nicht. Verlegen reichten wir die Platte mit dem Geflügel weiter und taten so, als merkten wir nicht, dass etwas wie ein dunkles Tuch über dem ganzen Fest lag. Mutter ließ Travis in Ruhe und drängte ihn nicht, zum Tischgespräch beizutragen. Er merkte nicht einmal, dass ich einige tiefe Kratzer an den Armen hatte und Großpapas Fingernägel Spuren dunkler Farbe aufwiesen.
    Langsam arbeiteten wir uns durch die verschiedenen Speisen: Zum Truthahn mit einer Füllung aus Innereien und geräucherten Austern gab es geschmortes Bries, gepfefferte Rehwürste, glasierte Süßkartoffeln, knusprig gebratene Kartoffeln in der Schale, in Butter gedünstete Lima- und Wachsbohnen, samtigen Maispudding, scharf gebratene Tomaten mit Okra, Kohl mit Stücken von süßem gepökeltem Schinken, schrumplige eingelegte Rote Beete, Spinat mit Zwiebeln in Sahnesauce. Zum Dessert gab es Pekannusskuchen,

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