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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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kümmere.«
    Nein danke. Ich blieb in sicherer Entfernung stehen, während Polly und ich einander skeptisch betrachteten. Der Papagei hob und senkte die Brust, und dann – ich schwöre! – zischte er mich an wie eine wilde Katze. Ich war gerade dabei, rückwärts aus dem Büro zu gehen, da kam Mr. O’Flanagan mit einem Seil zurück und sagte: »Nun wollen wir mal sehen – wie lang brauchst du es?«
    Ich war froh, dass er wieder da war. Ich war zwar auch froh für Polly, dass er einen guten Ort gefunden hatte, aber noch froher war ich, dass er nicht mehr bei uns lebte.
    Zu Hause halfen meine Brüder und ich SanJuanna und Alberto dabei, die warmen Bettdecken und die Winterkleidung ins Freie zu tragen, damit sie auslüften konnten. Die leichteren Patchworkdecken hängten wir an die Wäscheleinen und klopften sie nach Leibeskräften aus. Diese Tätigkeit gehörte zu den ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen wir sogar ermutigt wurden, uns richtig auszutoben, und wir waren begeistert bei der Sache. Die schwereren Federbetten wurden auf saubere Laken in der Sonne gebreitet, und wir wechselten uns dabei ab, neugierige Hunde und Katzen und Hühner zu verscheuchen. Mutter füllte eine Essiglösung in eine Sprühflasche und hüllte alles in einen leichten Nebel. Sie glaubte felsenfest an die desinfizierenden Eigenschaften von Essig und Sonne, und wer wollte ihr widersprechen? Etwas anderes besaßen wir im Grunde auch nicht. Diphtherie, Polio, Typhus lauerten überall, Krankheiten, gegen die wir absolut schutzlos waren. Immerhin lebten wir auf dem Lande und nicht in Austin, das war ein gewisser Schutz.
    Der Wetterumschwung erinnerte uns daran, dass Erntedank vor der Tür stand. Viel zu lange war uns allen viel zu heiß gewesen, um darüber nachzudenken. Unglücklicherweise fiel die Aufgabe, unsere kleine, exakt dreiköpfige Schar aus zwei Truthähnen und einer Pute zu füttern, in diesem Jahr Travis zu. Der erste dieser Vögel war für unseren eigenen Tisch gedacht, der zweite für die Dienstboten und der dritte für die Armen am anderen Ende der Stadt. So war es Tradition in unserem Hause. Nicht zur Tradition gehörte es, dass, wie in diesem Jahr, ausgerechnet das am zartesten besaitete Kind der Familie für diese Vögel zuständig war.
    Travis hatte seinen Schützlingen natürlich sofort Namen gegeben: Reggie, Tom Turkey und Lavinia. Er verbrachte Stunden bei ihnen im Staub, strich ihnen mit einem Stöckchen über das Gefieder und übte leise, ihr Kollern nachzumachen. Sie schienen ihrerseits Zuneigung zu ihm gefasst zu haben und folgten ihm innerhalb ihres Geheges auf Schritt und Tritt. Selbst die blinde Helen Keller hätte gesehen, was da auf uns zukam, wieso dann nicht meine Eltern?
    Ich glaube, Travis begriff erst Anfang November wirklich, was geschehen würde. Das war, als ich Viola zum Hühnerhof begleitete, damit sie unser zukünftiges Festessen begutachten konnte. Travis saß gerade auf einem Baumstumpf und hatte Reggie auf dem Schoß. Er redete mit ihm und ließ sich von ihm den Mais direkt von den Lippen nehmen. Oje! Er blickte auf und wurde blass, als er Viola sah.
    »Was willst du denn hier?«, fragte er.
    »Schätzchen, sieh den Tatsachen ins Auge«, sagte sie. »Und jetzt schaff die anderen Vögel hier raus und stell deine drei hier auf, damit ich sie mir angucken kann.«
    »Geh weg«, sagte er. Seine Stimme war dünn und angespannt. Nie zuvor hatte ich ihn so reden hören. »Geh weg, jetzt gleich.«
    Viola ging zu Mutter und sagte: »Sie müssen was machen wegen dem Jungen. Der macht Schoßtiere aus den Truthähnen.«
    Mutter ging zu Vater. »Findest du nicht, Alberto sollte sich ab jetzt um die Truthähne kümmern?«
    Vater ließ Travis kommen. »Du darfst dir die Vögel nicht so ans Herz wachsen lassen. Wir leben hier auf einer richtigen Farm, und du musst in solchen Fällen wie die Großen sein.«
    Travis kam zu mir. »Aber das sind doch meine Freunde, Callie. Wieso sollte irgendjemand auf die Idee kommen, sie zu essen?«
    »Travis«, sagte ich, »bei uns gibt es jedes Jahr an Erntedank Truthahn. Dafür sind sie da, und das weißt du auch.«
    Es kam mir so vor, als würde er gleich in Tränen ausbrechen.
    »Wir können doch nicht meine Freunde essen. Was soll ich denn Reggie sagen?«, fragte er mich.
    »Ich glaube, du solltest gar nicht mit ihm darüber sprechen«, sagte ich. »Es ist besser so, meinst du nicht?«
    »Vermutlich«, sagte er und zog mit hängenden Schultern ab.
    Am nächsten Tag saß ich

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