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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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Heute Abend hatte ich erfahren, dass es andere wie mich gab, irgendwo dort draußen.

 
     
     
    Zweiundzwanzigstes Kapitel
     
    ERNTEDANK
     
    Eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten, die wir an unseren kultivierten Rassen wahrnehmen, ist ihre Anpassung nicht zum eigenen Vorteil der Pflanze oder des Tieres, sondern zum Nutzen und zur Liebhaberei des Menschen.
     
     
    Am nächsten Morgen wachte ich früher als gewöhnlich auf und wusste, noch bevor ich richtig wach war, dass etwas anders war. Als ich dann zu mir kam, merkte ich, dass mir kalt war. Kalt! Ich bekam sofort Gänsehaut an den Armen. Aufgrund einer dieser unvorhersehbaren Kaltfronten, die von der Amarillo-Ebene herüberfegten, war die Temperatur über Nacht um gut fünf Grad gefallen. Ich streckte einen Arm aus, um nach einer warmen Decke zu greifen, aber natürlich war da noch keine. Unser Haushalt war von diesem plötzlichen Wetterumschwung sozusagen kalt erwischt worden, nachdem die Hitze so lange schwer und drückend auf uns gelastet hatte. Ich schlug mein baumwollenes Laken zurück, streckte die Arme in Richtung Decke und rekelte mich genüsslich in der kühlen Luft. Wenn ich lange genug so liegen blieb, würde ich dann wohl anfangen zu zittern? Aber für derartige Experimente war jetzt wirklich keine Zeit, ein schöner Tag wartete auf mich.
    Ich ging in Sommerkleidung hinunter, denn etwas Wärmeres hatte ich noch nicht in meinem Schrank. Viola sang The Willow Bends Her Boughs for Me, während sie Feuer im Küchenherd machte. Idabelle hatte sich in ihrem Körbchen fest zusammengerollt. Mutter kam in ihrem Morgenmantel herunter, über den sie sich ihren geliebten Kaschmirschal geworfen hatte, der nach Kampfer roch. Vater hatte ihn ihr während ihrer Hochzeitsreise gekauft, in Galveston, einer Stadt, in die Tag für Tag eine unvorstellbare Vielzahl der fabelhaftesten Güter strömte.
    »Zart wie ein Kinderpopo«, pflegte Vater zu sagen, wenn Mutter diesen Schal trug, dabei zwinkerte er ihr zu, und sie wurde regelmäßig rot. Sie kämpfte einen ständigen Kampf mit Mäusen und Motten um diesen Schal, und verdankte ihren Vorsprung nur dem heftigen Einsatz von Mottenkugeln, deren Gestank ihr folgte wie ein widerliches Parfüm. Bis zum Frühjahr ließ der Geruch langsam nach, doch dann musste sie den Schal erneut wegpacken.
    Viola machte Teigschnecken mit Pekannüssen, und wir stürzten uns darauf wie ausgehungerte Raubtiere. Aus Anlass dieses besonderen Tages übergab Großpapa SanJuanna für kurze Zeit seinen Frack, damit sie von Neuem einen ihrer nutzlosen Versuche unternehmen konnte, ihn vorzeigbarer zu machen. Das Benzin hatte eigentlich nur eine einzige Wirkung, nämlich dass Großpapa wie ein wandelndes Laboratorium roch.
    Auf der hinteren Veranda hatten sich die Hofkatzen zusammengerollt. Ajax und die anderen Hunde tollten schnüffelnd durchs Gras. Alle hatten heute leuchtendere Augen. Alle waren weniger gereizt, die Stimmung wurde wieder froher. Wir konnten weitermachen.
    An diesem Tag veranstalteten meine Brüder und ich zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Wettrennen auf dem Schulweg. Miss Harbottle war so guter Laune, dass niemand geschlagen wurde und auch keiner in der Ecke stehen musste. Zur Feier des Tages sprangen Lula und ich auf dem ganzen Heimweg Seilchen. Monatelang war es viel zu heiß gewesen, um auch nur daran zu denken. Als ich auf mein Seil trat, wurde mir klar, dass ich im Laufe des Sommers größer geworden war.
    Bevor ich nach Hause ging, machte ich noch einen Abstecher zur Cotton Gin. Vater war im Gespräch mit anderen Baumwollpflanzern, und so ging ich zu Mr. O’Flanagan und bat ihn, mir ein längeres Springseil zu schneiden.
    »Aber gern«, sagte er und erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Komm herein und sag Polly guten Tag.« Polly stand auf seinem Käfig und sah ganz gesund und zufrieden aus, trotzdem beäugte er mich böse. »Der alte Polly ist ein braver Vogel, nicht wahr?«, meinte Mr. O’Flanagan und streichelte ihm zärtlich das Gefieder, allerdings gegen den Strich. Ich sah erschrocken zu und erwartete, dass Polly Mr. O’Flanagan mit den Krallen skalpieren würde, doch Polly blinzelte bloß vergnügt und schmiegte sich in die Hand des Mannes.
    »Polly guter Junge«, krähte der Vogel in seiner irritierend echten, nasalen Imitation einer menschlichen Stimme.
    »O ja«, antwortete Mr. O’Flanagan liebevoll, »so ist es. Calpurnia, du kannst ihn ein bisschen kraulen, während ich mich um dein Seil

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