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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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gleichermaßen schockiert, starrten einander mit großen runden Augen an, dann knurrte das Opossum und ließ sich zu Boden sinken. Dort lag es auf der Seite, steif und reglos, und in dem grimassenhaft verzogenen Maul zeigten sich winzige, nadelspitze Zähne. Seine Augen blickten starr, die Schnurrbarthaare wirkten wie erfroren. Also der Inbegriff des sich tot stellenden Opossums. Die Katze, die jedes Mal wieder von Neuem von diesem Bild erstaunt war, sah verwundert zu. Dann näherte sie sich der Leiche und schnüffelte vorsichtig am Boden ringsherum. Dann legte sie sich hin, zog alle Pfoten unter den Leib, wie Katzen es gern machen, und betrachtete ihr bezwungenes Opfer mit großer, katzenartiger Zufriedenheit. Aufgabe erfüllt! Nach einer Weile wurde ihr langweilig, und sie lief in Richtung Küchentür, in der Hoffnung auf eine kleine milde Gabe von Viola. Die Opossumleiche lag weitere fünf Minuten wie aufgebahrt da, dann, ohne jede Vorwarnung oder Feierlichkeit, kam sie torkelnd auf die Beine und trollte sich, auf der Suche nach etwas Essbarem.
    Abend für Abend spielte sich diese Szene ab, den ganzen Sommer lang, und weder ich noch die beiden Gegner wurden sie je leid. Wie schön, so ein unblutiger Krieg, in dem jede Seite gleichermaßen vom eigenen Triumph überzeugt war.
    Jeden Morgen um Punkt fünf kehrte das Opossum zurück. Es kroch unters Haus und kletterte in die Wand neben meinem Bett. Sein Gescharre weckte mich so verlässlich wie ein Wecker. Mein Fünf-Uhr-Opossum. Ich erzählte niemandem von ihm, denn wenn Mutter davon wüsste, würde sie Alberto, SanJuannas Ehemann, unters Haus schicken, um das Loch zuzustopfen und eine Falle aufzustellen. Aber ich gönnte dem Opossum sein Heim in unserem. (Frage für das Notizbuch: Woher weiß das Opossum, wie spät es ist?)
    Ich fragte Großpapa danach. »Vielleicht hat es ja eine Uhr in der Westentasche, so wie das Kaninchen bei Alice im Wunderland«, antwortete er ernst.
    »Stimmt«, sagte ich und versuchte vergebens, mir ein Lächeln zu verkneifen. Ich schrieb es in mein Notizbuch, damit ich nicht vergaß, Lula Gates davon zu erzählen, meiner besten Freundin.
     
    Eines Abends saß ich dicht neben Großpapa auf einem hohen Hocker und sah ihm zu, während er weiter daran arbeitete, die richtige Formel zu finden, um aus Pekannüssen Schnaps herzustellen. An der Decke der alten Sklavenbaracke hatte er bestimmt ein Dutzend Kerosinlampen aufgehängt, und man musste gut aufpassen, dass man nicht mit dem Kopf daran stieß. Die Lampen erfüllten den Raum mit einem tanzenden gelben Licht. Mutter hatte immer große Angst, das ganze Gebäude könnte eines Tages in Flammen aufgehen, und Alberto musste dafür sorgen, dass in jeder Ecke stets große Eimer voll mit feuchtem Sand vom Fluss standen. Die Fenster waren nicht verglast; stattdessen hatte man Jutesäcke in die Öffnungen gehängt, um Insekten draußen zu halten. Allerdings nutzte das nichts – der Ort war ein Mottenparadies.
    Seit Jahren arbeitete Großpapa an einer Methode, aus Pekannüssen Whiskey zu brennen. Das Experiment selbst interessierte mich nicht, aber in der Gesellschaft meines Großpapas war mir nie langweilig. Während er arbeitete, unterhielten wir uns. Ich reichte ihm Dinge an und spitzte ihm die Stifte, die er in einem Rasierbecher aufbewahrte.
    Wenn es gut lief mit seiner Arbeit, summte er meist heitere Melodien von Vivaldi vor sich hin, wenn es nicht gut lief, zischte er leise durch seinen dichten Schnurrbart hindurch.
    Ich wartete einen Augenblick ab, in dem er in einer Dur-Tonart pfiff, dann fragte ich ihn: »Großpapa, warst du immer schon ein Naturforscher?«
    »Wie war das?«, fragte er. Er hielt ein Becherglas mit einer lehmig-braunen Flüssigkeit ans warme, zitternde Licht und setzte seine Brille auf, um einen genaueren Blick auf das zähe Sediment werfen zu können, das sich wie Flussschlamm am Boden des Glases absetzte. »O nein, nicht immer.«
    »War dein Großvater auch ein Naturforscher?«
    »Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich kann nicht sagen, dass ich ihn wirklich gekannt hätte. Er starb, als ich noch ein Junge war.« Er nippte an der trüben Flüssigkeit und verzog das Gesicht. Destillieren, kosten, eine Grimasse ziehen – und anschließend meist noch fluchen, das war die übliche Abfolge.
    »Verdammt!«, sagte er. »Was für ein widerliches Gebräu!«
    Offensichtlich war er wieder nicht vorangekommen.
    »Wie alt warst du, als er starb?«, wollte ich wissen.
    »So etwa fünf,
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