Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
Vom Netzwerk:
Sekunde. Ich nahm seine Hand und gelobte, mein Bestes zu tun, um seiner Familie zu helfen. Er umarmte mich dankbar. Meine Worte hätten ihn sehr erleichtert, und sollte er an diesem Tag sterben, dann müsse er sich keine Sorgen machen. Damit ging er und nahm seinen Platz in der Kampflinie wieder ein.«
    Großpapa zog sein großes weißes Taschentuch hervor und wischte sich übers Gesicht.
    »Ich zog mir meinen Stuhl heran«, fuhr er dann fort, »so konnte ich meine Fledermaus gründlich aus nächster Nähe betrachten. Sie war in jeder Hinsicht vollkommen, einfach vollkommen. Sie musste gespürt haben, dass ich da war, denn sie öffnete die Augen und blinzelte. Sie blieb absolut ruhig. Der Lärm und die Erschütterungen da draußen schienen sie nicht im Geringsten zu stören. Sie breitete kurz die Flügel aus und gähnte, dann faltete sie sich wieder zusammen und war sofort wieder fest eingeschlafen.
    Ich betrachtete sie weiter, und am liebsten hätte ich das Zelt nie verlassen, doch der Beschuss ging wieder los, und man schickte nach mir. Ich ging nur ungern.«
    Stumm saßen wir da. Irgendwann fragte ich: »Ist er gestorben?«
    Großpapa sah mich an.
    »Der Junge«, erklärte ich. »Der aus Elgin.«
    »Nicht an jenem Tag.« Er schwieg eine Weile, bevor er weiterredete. »Er hat eine Kugel ins Knie abbekommen. Er lag im Feld, zwischen den Toten und Sterbenden. Von überallher kamen Rufe nach Wasser, nach der Mutter, nach Erbarmen, schreckliche Schreie, die langsam immer schwächer wurden. Erst spät in der Nacht konnten wir uns endlich hinauswagen, um sie zurückzuschleppen. Unser Feldchirurg arbeitete die ganze Nacht hindurch, wir leuchteten ihm mit Talglampen, die einen Docht aus Binsenmark hatten. Nur leicht verletzte Soldaten mussten warten. Zu schwer verletzte brachte man beiseite, gab ihnen etwas Alkohol und ein oder zwei Quäntchen Morphium, und der Feldkaplan sprach ein paar tröstende Worte, soweit sie sie noch aufnehmen konnten. Diejenigen mit zertrümmerten Armen oder Beinen mussten sofort amputiert werden, bevor sie verbluteten oder Wundbrand oder Blutvergiftung einsetzten.
    »Dann, als die Sonne wieder aufging, war auch der Junge aus Elgin an der Reihe. Er war schrecklich geschwächt. Wir hoben ihn auf den Tisch, der schon über und über voll war mit warmem Blut. Ich gab ihm Chloroform. Als ich ihm den Trichter aufs Gesicht setzen wollte, sah er mir in die Augen und sagte lächelnd: »Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Captain. Es ist schon in Ordnung.«
    »Dann zog ich an seinem Bein, so fest ich konnte, während der Chirurg sägte und den Hautlappen vorbereitete. Plötzlich hielt ich das Bein in meinen Armen, und ich stand da und wiegte es, als wäre es ein Kind. Man ist erst einmal völlig überrascht, wie schwer so ein Bein eines Mannes ist. Ich stand da und hielt es weiter fest, ich wollte es nicht zu den anderen auf den Haufen werfen. Schließlich tat ich es dann doch.«
    »Ihr habt ihm das Leben gerettet«, sagte ich. »Nicht wahr?«
    Großpapa schwieg eine Weile, dann sagte er: »Er ist nicht mehr aufgewacht.« Lange sah er starr in eine Ecke seines Laboratoriums. »Zwei Tage später erfuhren wir, dass der Krieg zu Ende war. Wir sollten nach Hause gehen, hieß es, und so viel an Ausrüstung und Proviant mitnehmen, wie wir tragen konnten, doch viel war ohnehin nicht übrig. Ein paar Patronen, ein oder zwei Pfund Bohnen, eine schimmelige Decke – mehr würden wir nicht als Entlassungssold bekommen. Ich wusste, mein Zelt würde ich dringend brauchen, doch die Fledermaus war noch immer darin. Ich wusste nicht, wie ich es übers Herz bringen sollte, sie zurückzulassen, doch wie ich sie mitnehmen konnte, wusste ich ebenso wenig. Schließlich ging ich zum Zelt des Feldchirurgen und stahl ihm den Yellow Jack aus dem Gepäck. Weißt du, was das ist, ein Yellow Jack?«
    »Nein, Sir«, flüsterte ich.
    »Das ist die Flagge, die Gelbfieber signalisiert – zum Zeichen dafür, dass man sich fernhalten soll. Das Gelbfieber kostete Tausende das Leben, ganze Regimenter, vielleicht ebenso viele wie das Feuer der Unionisten. Mit einem Ledergurt band ich die Flagge an mein Zelt. Dann schnitt ich ein Loch ins Dach. Ich wusste, wenigstens eine Weile würde meine Fledermaus nun ungestört und in Sicherheit sein. Mehr konnte ich nicht für sie tun.
    Voll äußerster Traurigkeit nahm ich Abschied von ihr. Zuvor hatte ich einen Berg aus Armen und Beinen in Brand gesetzt und nichts dabei gefühlt. Den Jungen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher