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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jacqueline Kelly
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irgendwann in dieser langen, kalten Nacht wachte ich auf und spürte, wie die Luft um mich herum zitterte – besser kann ich es nicht beschreiben. Die Fledermaus flog um meinen Kopf herum und in die Nacht hinaus. Ich wünschte ihr einen guten Flug.«
    Mir war ganz seltsam zumute, während ich Großpapas Erzählung lauschte, ich wusste nicht, ob ich jauchzen oder weinen sollte.
    »Aber damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende«, fuhr er fort. »Reich mir doch mal das Stück Schlauch da vorn, ja? Ich bin noch vor Morgengrauen aufgewacht. Da wir kein Feuer hatten, brachte mein Bursche mir eine Schale mit kaltem Wasser für die Morgentoilette. Ich kleidete mich an und wollte eben mein Zelt verlassen, als neben mir etwas durch die Luft schwirrte. Meine Freundin war zurück und ließ sich an meiner Wäscheleine nieder.«
    »Die Fledermaus kam zurück?«, rief ich aus.
    »Meine Fledermaus«, sagte Großpapa. »Jedenfalls hatte ich allen Grund zu der Annahme, auch wenn für das ungeübte Auge eine Fledermaus der anderen sehr ähnlich sieht. Sie hing also da, schenkte mir einen freundlichen Blick und schlief ein. Ich sage immer sie , aber einen Grund für die Annahme, dass es tatsächlich ein Weibchen war, hatte ich nicht. Es ist gar nicht schwierig, das Geschlecht einer jungen Fledermaus zu bestimmen, aber damals wusste ich das noch nicht.«
    »Hast du sie behalten?«, fragte ich. »Sag doch!«
    »Sie war mein Gast und schlief den ganzen Tag über in meinem Zelt.« Im flackernden gelben Licht der Kerosinlampen sah ich Großpapa lächeln, er schien versunken in kostbare Erinnerungen. Dann veränderte sich seine Miene.
    »Nie werde ich jenen Tag vergessen«, sagte er. »Zwei Stunden nach Sonnenaufgang fiel das Unionsheer aus dem Norden über uns her und ließ bis Sonnenuntergang nicht von uns ab. Sie hatten mehrere Zwölfpfünder herbeigeschleppt und beschossen uns unablässig mit ihren Kanonen, bis wir vor lauter Lärm nichts mehr hören und vor lauter Rauch nichts mehr sehen konnten. Diese Minié-Geschosse forderten einen schrecklichen Blutzoll. Wir waren umzingelt. Den ganzen Tag lang sah ich nach unseren Jungen an der Kampflinie, machte ihnen Mut, munterte sie auf, so gut es ging. Ich schickte erst einen Burschen, dann einen zweiten flussabwärts, um Major Duncan eine Botschaft zu überbringen. Keinen der beiden habe ich wiedergesehen.« Er strich sich über die Stirn.
    »Doch wann immer ich an unseren Lagerplatz zurückkehrte, musste ich schnell einen Blick in mein Zelt werfen. Ich machte mir Sorgen um die Fledermaus, verstehst du? Ich war unruhig, dass der Lärm und der Rauch sie in Panik versetzen mochten, dass sie womöglich kopflos würde und deshalb geradewegs ins Kreuzfeuer flog. Denn inzwischen war sie meine Fledermaus, verstehst du?«
    Ich nickte. Ich verstand.
    »Pulverdampf füllte die Luft, irgendwann war von der Sonne nichts mehr zu sehen. Keine fünf Meter weit konnte man mehr sehen, in keine Richtung. Bei Sonnenuntergang ließ der Ansturm endlich nach, vermutlich zog es die Unionstruppen zu ihrem Abendessen. Meine Jungs blieben in ihren Löchern und aßen trockene Kekse. Wer Papier und Stift besaß, schrieb ein letztes Mal an seine Familie. Sie baten mich flehentlich, die Briefe an mich zu nehmen und im Falle meines Überlebens dafür zu sorgen, dass sie die Angehörigen erreichten. Viele von ihnen drückten mir die Hand, nahmen Abschied und baten mich, für ihre Seelen und ihre Familien zu Hause zu beten. Einer von ihnen folgte mir zu meinem Zelt und bat mich, seinen Brief für ihn zu schreiben. Erwartungsvoll öffnete ich den Eingang; ich war sicher, die Fledermaus sei inzwischen in Panik davongeflogen.«
    Ich hielt den Atem an, reglos wie eine Statue saß ich da.
    »Doch da war sie, kopfüber hing sie am Seil und schlief fest. Soweit ich das sagen konnte, hatte sie sich den ganzen Tag noch nicht aus dieser Position bewegt. Der Bursche verlor kein Wort über das seltsame kleine Päckchen, das da hing, vielleicht hatte er es auch gar nicht bemerkt – seine Gedanken waren weit weg bei seiner Familie.
    Ich schrieb einen Brief für ihn an seine Mutter und seine Schwestern in Elgin. Er bat sie, nicht allzu lange um ihn zu weinen und dafür zu sorgen, dass der Mais bis Juni eingebracht war. Es gab jetzt keinen Mann auf der Farm, erzählte er mir, und er bezweifelte, dass sie ohne ihn zurechtkämen. Bei dem Gedanken an die schwierige Lage der Frauen kamen ihm die Tränen. An sich selbst dachte er keine

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