Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
Vom Netzwerk:
aus Elgin hatte ich zu den anderen in einen Graben geworfen. Und nichts dabei gefühlt.
    Drei Wochen brauchte ich, bis ich Elgin erreichte. Im Empfangszimmer der Familie überbrachte ich der Mutter und den Schwestern des Jungen die Nachricht. Ich sagte ihnen, er sei als Held gestorben. Dass sein Tod am Ende sinnlos war, habe ich ihnen nicht gesagt. Sie sagten, es sei ihnen eine Ehre, dass ich gekommen sei. Drei Monate blieb ich bei ihnen, um den Mais zu ernten und den Hof auf Vordermann zu bringen. Deiner Großmutter ließ ich eine Nachricht zukommen, dass ich später heimkehren würde. Ich glaube, das hat sie mir nie verziehen, dass ich nicht gleich zu ihr gekommen bin. Aber wir haben die Ernte eingebracht, indem alle abwechselnd hinter dem Maultier gegangen sind, bis hinunter zur Jüngsten.«
    Auf einmal sah Großpapa mich überrascht an. »Richtig – du bist jetzt gerade so alt wie sie damals.«
    Ich stellte mir vor, wie ich hinter einem Maultier herlief, so wie unsere Feldarbeiter. Das waren erwachsene Männer mit kräftigen Unterarmen und breiten, rissigen Händen. Je nach Jahreszeit waren sie entweder mit grauem Staub oder mit dunklem Schlamm bedeckt. Ich selbst an ihrer Stelle? Ausgeschlossen!
    »Aber ich sollte dir das alles nicht erzählen.« Er wischte sich wieder übers Gesicht und sah auf einmal so alt aus, dass es mir Angst machte. »Du bist noch zu jung für diese Geschichten.«
    Ich stand auf und lehnte mich an Großpapa, und er legte einen Arm um mich. So standen wir ein Weilchen. Er gab mir einen Kuss auf die Stirn.
    Nach ein paar Minuten fragte er: »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, du könntest mir den Filter holen, sei so gut.«
    Ich holte den Filter, und wir arbeiteten weiter, ohne zu reden.
    Ich musste an die Kriegsveteranen denken, an denen ich jeden Tag vorüberkam, tatterige, alte Männer, die vor der Cotton Gin saßen, wo sie Tabak ausspuckten und alle Welt mit den alten Geschichten langweilten, die sie schon seit Jahrzehnten erzählten. Die Enkelkinder dieser Männer hörten ihnen schon lange nicht mehr zu.
    Aufgeregte Motten in verschiedenen Größen stießen mit uns zusammen, bevor sie immer wieder gegen die Lampen flogen. Eines dieser pelzigen Tiere landete in meinem Pony; es kitzelte unerträglich. Ich pflückte sie aus meinen Haaren, zog den Sackvorhang zurück und stupste sie hinaus in die Nacht. Begeistert flog sie mir sofort wieder ins Gesicht, wie von einer Windböe getragen. Ich seufzte. Eins hatte ich jedenfalls gelernt: Gegen Mitglieder der Klasse Insecta, Ordnung Lepidopera konnte man einfach nicht gewinnen.
    Wir sollten das näher untersuchen, Großpapa und ich.

 
     
     
    Viertes Kapitel
     
    VIOLA
     
    Wir dürfen ferner schließen …, dass außer dem Klimawechsel an sich die Änderung im Zahlenverhältnisse eines Teils ihrer Bewohner auch sehr wesentlich auf die anderen wirkt.
     
     
    Hätte ich Acht gegeben, dann wäre mir vielleicht aufgefallen, dass Viola mir immer mit einem merkwürdigen Blick nachsah, wenn ich zur Küchentür hinausschlüpfte, um Großpapa in seinem Laboratorium zu besuchen. Viola war schon immer bei uns gewesen, sogar schon vor Harrys Geburt. Mit ihrer Glocke stand sie an der Tür, um alle, die draußen bei der Arbeit waren, zum Essen zu rufen, bevor sie am Fuß der Treppe auf einen kleinen Messinggong schlug, um den Hausbewohnern Bescheid zu geben, die sich in den oberen Räumen aufhielten. Mutter fand den Messinggong vornehmer und hätte es gern gesehen, wenn Viola ihn auch vor dem Haus benutzt hätte, doch da meine Brüder und ich überall zwischen der Cotton Gin und dem Fluss sein konnten, hätten wir sie nie gehört. Und zum Abendessen hatten wir pünktlich zu erscheinen, gewaschen und gekämmt, sonst gab es Ärger.
    Noch nie hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, wo Viola herkam. Sie war eben immer schon dagewesen, hatte Teig geknetet, Äpfel geschält, im Winter gewaltige Braten in den Ofen geschoben und im Sommer bergeweise Hühner gebraten. Die Küche war ihr Reich, und niemand, nicht einmal Mutter, wagte es, ihr dort in die Quere zu kommen. Zwischen den Mahlzeiten fand man sie bei den Hühnern oder den Schweinen oder im Gemüsegarten, wo sie sich Gedanken über die Speisenfolge der nächsten Tage machte, oder sie saß am Küchentisch, einen angeschlagenen Kaffeebecher neben sich, und ruhte ein wenig aus vor der nächsten Mammutmahlzeit.
    Sie muss damals so zwischen vierzig und fünfzig gewesen sein. Sie sah gut aus, war von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher