Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
der Veranda ab. »Harry«, sagte ich.
»Hm-mm?«
» Harry! Was ist los mit dir? Bist du krank? Irgendwas stimmt doch nicht.«
»Hm-mm«, machte er nur und lächelte dabei.
»Fühlst du dich gut? Vielleicht solltest du zum Arzt gehen.«
»Mach dir keine Sorgen«, antwortete er, »mir geht’s gut. Mir geht’s sogar großartig.«
»Aber was ist es dann?«
Er lächelte geheimnisvoll und zog eine schon etwas abgegriffene Carte de Visite aus der Tasche, eine dieser neumodischen mit einem Foto darauf. ( Der Gipfel der Vulgarität, war der Kommentar meiner Mutter.)
Und da war sie! Eine junge Frau (ganz gewiss kein junges Mädchen mehr), mit großen, leicht vortretenden Augen, einem kleinen, gespitzten Mündchen, wie sie derzeit als schön galten, einem Schwanenhals, und darüber einem solchen Wust an Haaren, dass sie wie eine Pusteblume aussah, kurz bevor der Wind sie abrasierte.
»Ist sie nicht eine Wucht?«, sagte er mit einem näselnden Tonfall, den ich nie zuvor von ihm gehört hatte und den ich auf Anhieb hasste. Und auch sie hasste ich auf Anhieb, denn ich sah auf den ersten Blick, was für ein Wesen sie war: eine Hexe, eine krumme Harpyie, ein Geier, der sich über geliebte Brüder hermacht. Die Zerstörerin des Glücks meiner Familie. Meines Glücks. Ich starrte die gespenstische Erscheinung an.
»Eine Wucht?«, wiederholte ich. In meinem Kopf drehte sich alles. Mein Bruder verschwand vor meinen Augen, er wurde uns einfach weggenommen – ich musste irgendetwas unternehmen. Meine Gedanken rannten wild auseinander, wie undisziplinierte Truppen beim ersten Beschuss, und ich brauchte einen Moment, bis ich sie zusammengezogen hatte. Doch vor meinem ersten Gefecht fehlten mir noch wichtige Informationen meines Nachrichtendienstes.
»Woher kennst du sie, Harry?«, fragte ich mit der Unschuldsmiene einer richtigen Spionin.
Eine Sekunde lang löste sich der Schleier vor seinem Auge, und Harry zögerte, bevor er antwortete. Offenbar hatte ich ein heikles Thema angeschnitten, doch die Tragweite war mir noch nicht klar.
»Also, in Prairie Lea gab es neulich abends ein Picknick der Kirchengemeinde, ich kam zufällig vorbei, und man hat mich eingeladen.«
Aha. Nun wusste ich allerdings, dass es in Prairie Lea zwei Gemeinden gab, die der Baptisten, die akzeptabel war, und die Unabhängige Kirche von Prairie Lee, die es nicht war. Die Mitglieder dieser Gemeinde, Leapers genannt, wurden von vielen Leuten als ziemlich primitives Pack angesehen, unter anderem von meinen Eltern, die beide überzeugte Methodisten waren. (Großpapa war der Meinung, er habe für sein Leben genug Predigten gehört, und zog es vor, die Sonntagvormittage in freier Natur zu verbringen. Reverend Barker, unser Pfarrer, der Großpapas Gesellschaft schätzte, konnte gut mit dieser Einstellung leben, peinlich war es nur meiner Mutter.) Und obwohl meine Mutter ein- oder zweimal Gäste aus dieser Gemeinde in Prairie Lea bewirtet hatte, so warf sie diese Leapers letztlich doch in einen Topf mit Randerscheinungen wie den extremen »Hühnerhaussekten«, wie sie sie nannte, zu denen auch solche zählten, in denen Klapperschlangen zum Kult gehörten oder deren Anhänger sich in Ekstase brachten, bis sie mit Schaum vor dem Mund umfielen.
Ein Teil meines Gehirns, von dem ich bis dahin nicht einmal gewusst hatte, dass ich ihn besaß, übernahm das Kommando und rief wie ein General alle zur Ordnung. Ich schärfte meine Waffen, sondierte das Terrain, wählte mein Ziel. Ich sah die Schlacht bereits vor mir, das Feld und den Zeitpunkt. Ich war der große General Jackson, der den Beinamen »Stonewall« hatte, ich war General Lee höchstpersönlich!
»War das die Baptistengemeinde, Harry?«, fragte ich mit zuckersüßer Stimme.
»Nein.« Er zögerte wieder. »Sie gehört zur Unabhängigen Kirche von Prairie Lee.«
Ein himmlisches Gefühl der Erleichterung durchflutete mich. Der Feind gehörte mir. »Oje«, sagte ich schwesterlich besorgt, »sie ist eine Leaper?«
»Stimmt. Na und?«, sagte er trotzig. »Außerdem solltest du diese Menschen nicht so nennen, sie sind einfach Unabhängige.«
»Hast du es Mutter und Vater schon gesagt?«, fragte ich.
»Ähm – nein.« Er wirkte gereizt. Meine Eröffnungssalve hatte ihn ins Mark getroffen. Doch dann schaute er wieder auf das Bild, und ich konnte zusehen, wie er gleich wieder dahinschmolz.
Ich machte den nächsten Vorstoß. »Wie alt ist sie? Sie sieht schon ziemlich alt aus.«
»Sie ist nicht alt!«, sagte er
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