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Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen

Titel: Calpurnias (R)evolutionäre Entdeckungen
Autoren: Jacqueline Kelly
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und Lula zuckte zusammen wie ein erschrockenes Rehkitz. Einen Moment lang dachte ich, sie würde wegrennen. Schnell stellte ich im Kopf einige komplizierte Berechnungen an, in welchem Grade sie mich verantwortlich machen könnten, falls Lula sich wirklich aus dem Staub machen sollte. Doch die gute alte Lula hielt tapfer durch und blieb auf ihrem Platz.
    Auf einmal sah ich Miss Brown am Kopf der Reihe majestätisch nach oben schweben. Warum? Und wie war das möglich? Was ging hier vor? Ich brauchte eine Sekunde, bis ich mich erinnerte, dass ungefähr ein Dutzend Stufen auf die Bühne hinaufführten und die Lehrerin diese soeben hinaufschritt.
    Stufen! Die hatte ich völlig vergessen. Hunderte und Aberhunderte. Sicher, gesehen hatte ich sie schon, aber sie waren nicht Teil meines geistigen Trainings für diesen Tag gewesen. Die Knie wurden mir weich, und mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Lula schwebte ohne erkennbare Probleme vor mir hinauf. Ich folgte ihr voller Angst und schaffte es tatsächlich bis nach oben, ohne auf die Nase zu fallen, und erinnerte mich gerade noch rechtzeitig, nicht in das blendende Licht zu gucken, das den Rand des Abgrunds markierte. Wir gelangten zu unseren Stühlen, und der Applaus erstarb wie ein abflauender Sturm.
    Miss Brown ging vor zum Bühnenrand und knickste vor dem Publikum. Dann hielt sie eine kleine Rede darüber, was für ein wundervolles Ereignis dies doch sei, wie die Kultur in Caldwell County zunehmend Wurzeln schlage, o ja, welchen Gewinn junge Köpfe und junge Finger aus der Beschäftigung mit den großen Komponisten ziehen und wie sehr sie hoffe, dass die Eltern zu schätzen wüssten, wie viel Mühe sie darauf verwandte, diese Kinder an die »schönen Dinge des Lebens« heranzuführen, wo wir doch schließlich immer noch quasi an der Grenze zum Wilden Westen lebten. Sie setzte sich, wieder wurde applaudiert, und dann standen wir einer nach dem anderen auf, mit unangemessenem Selbstvertrauen oder voll lähmender Angst.
    Muss ich noch erzählen, wie es weiterging? Es war eine einzige Katastrophe. Muss ich wirklich erzählen, dass Georgie hintenüber vom Klavierhocker fiel, bevor er auch nur eine einzige Note gespielt hatte, dass er zu heulen anfing und von seiner Mutter eilig von der Bühne geholt werden musste? Dass Lula makellos spielte, sich aber heftig übergeben musste, sobald sie geendet hatte? Dass Hazel Dauncey mit dem Fuß vom Pedal abrutschte, als gerade Totenstille im Saal herrschte und das Publikum auf den Beginn ihres Stückes wartete und der ganze Saal sich mit einem tiefen doooiiiing füllte? Dass Harry gut spielte, aber immer wieder an eine bestimmte Stelle des Saales schaute, was ich mir nicht erklären konnte? Dass ich wie aufgezogen und mit hölzernen Fingern spielte und zu knicksen vergaß, bis Miss Brown mich zischend daran erinnerte?
     
    Viel mehr weiß ich nicht von diesem Tag. Es ist mir gelungen, die Erinnerungen daran weitgehend auszulöschen. Allerdings weiß ich noch, dass ich mir noch auf der Rückfahrt im Wagen geschworen habe, nie wieder bei diesem Vorspiel mitzumachen. Das sagte ich auch Mutter und Vater, und vielleicht war da irgendetwas in meiner Stimme, denn trotz Miss Browns kolossale Bemühungen habe ich im folgenden Jahr zusammen mit Lula, die auf Lebenszeit von dieser Veranstaltung ausgeschlossen war, die Programme verteilt.

 
     
     
    Siebtes Kapitel
     
    HARRY HAT
    EINE FREUNDIN
     
    Auch haben zahme Rassen oft einen etwas monströsen Charakter … sie weichen oft im äußersten Grade in irgendeinem einzelnen Teil … von den übrigen nächstverwandten Arten im Naturzustande ab …
     
     
    Bald nach dem Klaviervorspiel drohte unserer Familie eine große Gefahr.
    Vage muss mir immer schon klar gewesen sein, dass Harry eines Tages heiraten und eine Familie gründen würde, aber bis dahin, vermutete ich, würden noch Jahrzehnte ins Land gehen. Mindestens. Schließlich hatte Harry ja eine Familie, nämlich uns. Vor allem mich, seinen Liebling.
    In den Tagen nach dem Fiasko in Lockhart verhielt Harry sich ausgesprochen merkwürdig. Immer wieder starrte er vor sich hin, mit einem so blödsinnigen Gesichtsausdruck, dass man ihm am liebsten eine geknallt hätte. Wenn man ihn ansprach, antwortete er nicht, es war, als wäre er gar nicht anwesend. Ich hatte keine Ahnung, was in ihn gefahren war, ich wusste nur: Das war nicht mehr mein lieber, kluger Harry, das war nur eine verwässerte Version meines Bruders.
    Eines Tages fing ich ihn auf
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